Berlin. Am 4. Juli, seinem Geburtstag, bekam Horst Seehofer einen überraschenden Anruf auf dem Handy. Martin Schulz war dran. Der SPD-Vorsitzende ist mit dem bayerischen Ministerpräsidenten eigentlich nicht besonders dicke. Schulz gratulierte Seehofer und versuchte bei der Gelegenheit, sich beim CSU-Chef einzuschmeicheln. Man weiß ja nie, was im Leben noch so kommt. Schulz sagte: „Wir haben doch eine gemeinsame Gegnerin.“
„Na ja“, brummte Seehofer, „ich bin nicht mit allem einverstanden, was sie sagt, das stimmt.“ Er formulierte vorsichtig.
„Dann ziehen wir das doch mal als Obergrenze in unser Gespräch ein“, antwortete Schulz fröhlich.
Tja, man weiß wirklich nie, was im Leben noch so kommt. Fünf Monate und eine verlustreiche Bundestagswahl später sitzt Angela Merkel, die gemeinsame Gegnerin von Schulz und Seehofer, mit den beiden öfter zusammen. Vorige Woche beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue. Nächste Woche in Berlin wahrscheinlich schon wieder. Und im neuen Jahr werden sie sich wohl regelmäßig sehen, zu Koalitionsverhandlungen, obwohl alle drei nicht mit allem einverstanden sind, was die jeweils anderen so sagen. Vorsichtig formuliert.
Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen haben die drei unversehens in eine Zwangsgemeinschaft gepfercht. Ihr Auftrag, vom Bundespräsidenten höchstpersönlich erteilt: Deutschland endlich eine stabile Regierung zu verschaffen. Eine Große Koalition soll wieder mal her, mit den alten, müden Recken, aber mit frischen Ideen. Mission Impossible. Die drei Vorsitzenden und ihre Parteien wollen nicht mehr miteinander, können eigentlich auch nicht, sie müssen aber. Irgendwie. Da kann man fast schon von Glück reden, dass alle drei Parteichefs zu angeschlagen, zu machtlos sind, um sich der deutschen Sehnsucht nach Stabilität entziehen zu können. Sonst hätten sie sich schon längst vom Acker gemacht.
Aber genau darin besteht auch das Problem der Großen Koalition: Es ist ein Bündnis der Schwachen und Lahmen. Es kann jederzeit scheitern. Der SPD-Parteitag in dieser Woche, ein unbedachter Satz bei den Koalitionsgesprächen, eine absichtlich gestreute Bösartigkeit — es braucht nur wenig, um alles in die Luft zu jagen.
Die Protagonisten sind wundgescheuert. Der eine schon halb weg. Der andere auf Bewährung. Und die Dritte hält sich nur noch im Amt, weil um sie herum alle noch schwächer sind als sie selbst. Trio fatale. Da müsste schon der Himmel über Bayern einstürzen, dass er vorzeitig als Ministerpräsident aufhöre, hatte Horst Seehofer beteuert. Jetzt ist der Himmel eingestürzt. Nächstes Jahr wird er sein Amt übergeben — ausgerechnet an jenen Mann, den er unbedingt verhindern wollte: Markus Söder. Ein Desaster. Eine Schmach. Seehofer sitzt an diesem Montag in der CSU-Zentrale in München und knetet seine Hände. Pressekonferenz. Allein. Ohne Söder. „Der Wechsel gehört zum Leben“, sagt er. „Man muss diesen Grundsatz auch akzeptieren, wenn man selbst betroffen ist.“ Seehofer will cool wirken, souverän. „Ich bin ein sehr freier Mensch“, sagt der CSU-Chef. Wenn der Himmel über Bayern könnte, würde er jetzt noch einmal einstürzen.
Wie stark ist der halbe Horst jetzt noch? Was zählt sein Wort in Berlin? Kein Mensch könne heute sagen, ob es gelingt, eine Regierung im Bund zu bilden, hat Seehofer in München bemerkt. Ja, recht hat er. Weil niemand weiß, was passiert, wenn der Söder Markus bei den Verhandlungen in Berlin mitmischt. Dem ist die GroKo im Zweifel egal, Bayern ist alles, was zählt, die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl im kommenden Jahr, ihr ordnet er alles unter. Kann gut sein, dass sich die Kanzlerin noch mal nach dem ganzen Horst zurücksehnt, trotz allem.
Neue Achse in der CSU
Schon bei den Jamaika-Gesprächen war Seehofer ein junger Wilder aus der eigenen Partei immer wieder in die Parade gefahren: Alexander Dobrindt. Horst, wir können uns nicht von der FDP rechts überholen lassen, hatte er gesagt. Dobrindt ist
Seehofers Ziehsohn. Er war dessen Generalsekretär. Nun führt er die CSU-Landesgruppe im Bundestag an. Er ist jetzt der mächtige Mann der Partei in Berlin. Der zweite Teil einer neuen Achse. Söder-Dobrindt. Für Merkel bedeutet das noch mehr Unwägbarkeit. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise hatte Dobrindt Merkel scharf attackiert: „Es reicht jetzt nicht mehr aus, der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen.“ Merkel hätte ihren Minister Dobrindt damals eigentlich entlassen müssen. Sie verzichtete darauf. Ihre Macht schwand damals schon. Heute zerrinnt sie ihr zwischen den Fingern. So konnte sie es sich erst recht nicht mehr erlauben, in der vorigen Woche ihren CSU-Landwirtschaftsminister zu feuern. Christian Schmidt hatte im Alleingang in Brüssel dafür gestimmt, dass die Genehmigung für das umstrittene Unkrautgift Glyphosat um fünf Jahre verlängert wird. SPD-Umweltministerin Barbara Hendricks war strikt dagegen. Ein Sabotageakt. Die Genossen schäumten. Merkel gelang es gerade noch, Schmidt zu einem Friedensgipfel mit Hendricks zu bewegen.
Dabei kommt es in der politischen Zusammenarbeit zwischen den Parteien zuallererst auf drei Dinge an: Vertrauen. Vertrauen. Und Vertrauen. Man kann viel in Verträge schreiben. Papier ist geduldig. Die Realität hält sich häufig leider nicht an die schönen Absprachen. Krisen und Katastrophen lassen sich nicht planen. Umso wichtiger ist, dass die Spitzen der Regierungsparteien miteinander harmonieren. Sie müssen sich nicht lieben. Aber einander vertrauen. Darauf, dass der eine sich nicht aufKosten des anderen profiliert. Dass Absprachen eingehalten werden. Dass Vertrauliches auch vertraulich bleibt.
Wie ramponiert das Vertrauen zwischen Union und SPD ist, davon konnte man sich am Freitag voriger Woche einen lebhaften Eindruck verschaffen. Martin Schulz stand im Willy-Brandt-Haus in Berlin, grau war sein Anzug, und grau war die Stimmung. Schulz sollte berichten, wie die SPD-Führung nach dem Dreiergespräch beim Bundespräsidenten die Lage sieht. Gespräche mit der Union j– ja oder nein? Stattdessen ballerte der Sozi-Chefdirekt auf Angela Merkel. Er warf ihrer Partei vor, eine Falschmeldung in die Welt gesetzt zu haben, wonach die SPD „grünes Licht“ für eine GroKo gegeben habe. Genau diesen Eindruck muss Schulz vor dem Parteitag unbedingt vermeiden. Die SPD hält sich alle Optionen offen. Alles andere wäre politischer Selbstmord.
Also machte Schulz auf dicke Hose, erzählte, dass er Merkel eben angerufen und ihr gesagt habe, dass „so etwas inakzeptabel“ sei. „Wer Falschmeldungen in Umlauf setzt“, so Schulz ehrlich empört, „der zerstört Vertrauen.“
Äh, welches Vertrauen?
Die drei Parteivorsitzenden mögen vielleicht noch Profi genug sein, um persönliche Animositäten für den gemeinsamen Erfolg zurückzustellen. Merkel und Seehofer haben das inzwischen sogar perfektioniert. Haben die drei aber noch die Kraft und die Autorität, davon auch ihre Parteien zu überzeugen?
Der größte Unsicherheitsfaktor in diesem Machtspiel ist Schulz.
Seine Sozialdemokraten sind noch nicht reif fürs Regieren. Ihr ParteiChef hatte sie schon in die Opposition geschickt, jetzt müssen sie plötzlich zurück, zu Mutti, in das zuletzt so verhasste Bündnis mit der Union. Mit dem Parteitag startet ein gefährlicher, mühseliger Prozess. Die Delegierten sollen ihrer Führung zunächst einmal nur das Plazet für „ergebnisoffene Gespräche“ mit der Union erteilen.
Um die Preise für die Große Koalition in die Höhe zu treiben, hat die SPD eine ganze Reihe roter Linien gezogen. Zusammengefasst auf vier Seiten, lauter Punkte, die „essenziell“ sind, wie Schulz es formuliert. Einmal quer durchs Partei- und Wahlprogramm: Ende der grundlos befristeten Arbeitsverträge, gesetzliches Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeit, mehr Investitionen in Bildung, stabiles Rentenniveau. Auch das Nein zur Obergrenze bei Flüchtlingen ist wieder da. Und natürlich der Klassiker zur Abschaffung des Systems aus gesetzlichen und privaten Krankenkassen namens „Bürgerversicherung“, den die SPD schon 2013 nicht gegen Merkel durchsetzen konnte, obwohl die Kanzlerin seinerzeit in Spendierlaune war.
Die „explorative Phase“ (Schulz) wird sich ziehen. Erst Ende Januar, womöglich sogar im Februar wird es zu förmlichen Koalitionsverhandlungen kommen. Nur keine Eile. Die Kanzlerin soll warten – und leiden. Der SPD-Basis soll suggeriert werden: Alles ist möglich. GroKo, Minderheitsregierung, Neuwahlen.
Die CDU-Chefin ist strikt gegen eine Minderheitsregierung. Sie sei nicht doof, sagen ihre Leute. Wer dafür sei, schiele nur aufschnelle Neuwahlen — mit anderem Personal. Würde sie sich auf das Experiment einlassen, müsste sie bei der Suche nach Mehrheiten immer mit gegnerischen Parteien verhandeln, sagte sie bei dem Dreiertreffen mit dem Bundespräsidenten. Das sei der entscheidende Unterschied zu Minderheitsregierungen in anderen Ländern. Diese werden in der Regel von Parteien aus dem gleichen Lager gestützt. Europa könne sich aber kein Deutschland leisten, dessen Kanzlerin sich Mehrheiten erbetteln oder erkaufen muss — und damit permanent erpressbar ist.
Überhaupt Europa — damit will Merkel die Sozialdemokraten ködern. Mit der Aussicht darauf, dem französischen Präsidenten bei dessen EU-Reformvorschlägen weit entgegenzukommen, sogar ein gemeinsames EU-Budget ist nicht mehr völlig undenkbar. Das könnte klappen. Schulz erzähltja selbst ganz offenherzig, dass ihn Emmanuel Macron mehrfach angerufen und gebeten habe, in die Große Koalition zu gehen — um in der Regierung die europäischen Reformen zu unterstützen. Auch andere europäische Spitzenpolitiker haben sich gemeldet. Der Grieche Alexis Tsipras zum Beispiel. Schulz zitiert dessen SMS: „Vergiss nicht, dass eine wahrhaft linke und fortschrittliche Position nicht darin besteht, die eigene Identität möglichst sauber zu halten, sondern für wirkliche Veränderungen und Reformen zu kämpfen, im Interesse der vielen.“
Martin Schulz war in Europa eine große Nummer. Jetzt muss er sich dort die Autorität leihen, die er selbst nicht mehr hat, um seine Genossen vom Gang ins Unvermeidliche zu überzeugen. Bei Leuten, die stärker sind als er selbst.