München. Die Woche, in der die Lebensversicherung von einer Ikone der deutschen Altersvorsorge zum gewöhnlichen Geldgeschäft verkam, lässt sich genau festlegen: Am 26. September wurde bekannt, dass die Ergo Leben und ihre Schwester Victoria gut sechs Millionen alte Verträge verkaufen wollen; zwei Tage später verkündete die Generali Leben, im Frühjahr 2018 ihren Altbestand mit vier Millionen Verträgen abwickeln zu wollen, späterer Verkauf nicht ausgeschlossen.
Rette sich, wer kann — die beiden Versicherungsriesen, die Nummer sechs (Generali) und neun (Ergo) im Markt, machen hoffähig, was Iange als undenkbar galt: ein Ausverkauf im großen Stil. Zum Verkauf stehen insgesamt zehn Millionen Policen, ein Siebtel des deutschen Marktes. Es geht um gigantische Summen, denn mit den Verträgen dürften Kapitalanlagen von fast 100 Mrd. Euro den Besitzer wechseln.
Strikt ökonomisch betrachtet, sind die Verkaufspläne verständlich. An dem vielen Geld hängen schließlich heikle Verpflichtungen: hohe Kapitalgarantien, die in der Ära Niedrigzins mehr Risiken als Chancen bergen. Auch die Aktionäre wissen das. So stieg der Ergo-Aktienkurs nach Veröffentlichung des Verkaufsplans merklich. Die Generali wirbt bei Investoren gar, ein Schnitt ermögliche neues Wachstum.
Das Nachsehen haben Versicherte, deren Verträge auf dem Abstellgleis landen oder verscherbelt werden. Im Vergleich zur Abwicklung ist der Verkauf der Police aus Sicht von Axel Kleinlein, Chefvom Bund der Versicherten (BdV), für die Kunden die schlechtere Variante: „Ein Käufer schlägt doch nur ein, wenn er sich Gewinne verspricht. Woher sollen die kommen, wenn nicht vom Kunden?“
Bisher verhinderte die Sorge um das Image den großen Ausverkauf. Nun scheint es mit der Scheu vorbei, doch ein Dilemma bleibt: Wer neue Kunden für Vorsorgeverträge über 30 oder 50 Jahre gewinnen will, sollte gut erklären können, warum er solche Policen heute abstößt – und künftig trotzdem als verlässlicher Partner gelten will.
So entwickelt sich der Versicherungsmarkt immer mehr zum Policen-Monopoly. Abschließen und abheften, das war einmal. Auch Kunden müssen nun schnell reagieren, wenn sie ihre Interessen wahren wollen.
Beteiligen sich neben Ergo und Generali noch andere Versicherer am Ausverkauf?
In den Medien tauchen immer wieder zwei Namen auf: AachenMünchener und Axa. Beide dementieren jedoch. Die AachenMünchener, die zum Generali-Konzern gehört, soll zwar als Marke verschwinden, laufende Verträge würden aber — so ein Sprecher – nicht stillgelegt oder veräußert. Auch Axa widerspricht: Ein solcher Schritt sei „nicht geplant“. Langsam schwant der Branche wohl, wie sehr der geplante Ausverkauf die Kunden verunsichert. Markus Faulhaber, Chef der Allianz Leben, beruhigte seine Vertriebsleute jedenfalls eilends: „Für die Allianz ist das kein Thema.“ Man wolle weiterhin Kunden gewinnen, nicht loswerden.
Welche Verträge zählen eigentlich alle zu den Lebensversicherungen?
In erster Linie geht es bei den aktuellen Plänen der Versicherer um private Kapitallebens- und Rentenversicherungen. Allerdings können auch betriebliche Verträge betroffen sein, zum Beispiel Direktversicherungen oder Angebote der bereits seit September 2015 stillgelegten Pensionskasse der Ergo. Auch staatlich geförderte Riesterpolicen können je nach Anbieter zur Abwicklungsmasse zählen. Für fondsgebundene Policen hingegen ist ein solcher Schritt eher unwahrscheinlich. Wer wissen will, ob es seinen konkreten Vertrag trifft, sollte direkt beim Anbieter nachfragen.
Können Sie ein Veto gegen Abwicklung oder Verkauf einlegen?
Leider nein. Die Versicherungsaufsicht Bafin muss dem Verkaufvon Policen allerdings zustimmen — was sie schon tat, jüngst zum Beispiel bei der Basler. Bedingung ist aber, dass kein einziger Kunde dadurch schlechter gestellt wird. Insofern ist die Bafin die letzte Sicherungslinie für Kunden und nimmt auch Beschwerden entgegen. Liegt ihre Genehmigung vor, bleibt Kunden nur der Klageweg – mit geringen Erfolgsaussichten.
Was bedeuten Abwicklung oder Verkauf für die Gewinnaussichten meines Vertrags?
Nichts Gutes. Die Aufsicht achtet zwar strikt darauf, dass die Versicherer alle Garantien erfüllen. Bei den variablen Gewinnen haben die Unternehmen jedoch reichlich Spielraum. Und sowohl bei der Abwicklung wie beim Verkauf fehlt den Gesellschaften der Anreiz, weiter hohe Überschüsse an die Kunden auszukehren.
Ist es sinnvoll, im Abwicklungsfall die Versicherung fortzusetzen?
Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Es kommt zum Beispiel auf Versicherungsschutz, Garantien und die persönliche Situation an. Die Stilllegung der Policen oder Verkaufspläne sind aber ein guter Anlass, um laufende Verträge zu überprüfen. Es gibt meist drei Optionen: weiterzahlen, beitragsfrei stellen oder aussteigen. Diese Möglichkeiten stehen generell allen Kunden offen.
Gibt es denn gar keine Verträge mehr, die sich noch lohnen?
Doch, sogar eine ganze Menge. Ältere Policen, die in den Jahren vor 2005 abgeschlossen wurden, enthalten hohe Zinsgarantien und liefern daher häufig noch lukrative Erträge von 1,5 bis 3 Prozent jährlich – in aller Regel steuerfrei. Eine bessere festverzinsliche Geldanlage findet man aktuell nirgendwo. Außerdem lohnt es normalerweise, Lebensversicherungen durchzuhalten, die nur wenige Jahre vor der Auszahlung stehen, um die in Aussicht gestellten Schlussüberschüsse mitzunehmen.
Woran erkenne ich noch, ob ich einen Vertrag halten oder loswerden sollte?
Neben dem Abschlusszeitpunkt gibt es zwei weitere Kriterien:
Leistung: Millionen Vorsorgeverträge enthalten einen Schutz für den Fall der Berufsunfähigkeit. Eine solche BU-Rente ist schwer zu ersetzen und kann daher ein K.-o.-Kriterium für den Ausstieg sein.
Schulden: Wer nach einem Hausbau noch Kredite bedienen muss, kann das Geld aus einer Police meist gewinnbringender für Sondertilgungen nutzen oder Darlehen komplett ablösen. Tendenz: eher aussteigen.
Gibt es einen einfachen Check für die persönliche Entscheidung?
Leider nein. Schon wegen der unterschiedlichen Vertragsarten ist die Entscheidung komplex. Rürup-Verträge etwa sind unkündbar. Nach Ansicht von Praktikern wie Versicherungsberater Stefan Albers bietet nur eine exakte Vertragsanalyse die Grundlage für eine vernünftige Entscheidung: „Ich hatte schon Verträge, die trotz Steuerfreiheit nicht rentierten, weil von 100 Euro Beitrag allein 40 für Kosten draufgingen.“ Das sehe der Kunde aber nicht. Für alle, die selbst kalkulieren wollen, hat der Bund der Versicherten einen Onlinerechner, mit dem sich die Rentabilität von Policen gratis überprüfen lässt: bundderversicherten.de
Gibt es einen Trick, um unrentable Policen ohne Verluste loszuwerden?
Ja! Millionen Kunden können ihren Vertrag ganz legal widerrufen und so die eingezahlten Beiträge nahezu komplett zurückholen. Die Grundlage dafür hat der Bundesgerichtshof gelegt. Viele Versicherer haben bei Vertragsabschlüssen zwischen Mitte 1994 und Ende 2007 fehlerhaft informiert. Die Richter gestanden diesen Versicherten ein „ewiges“ Widerrufsrecht zu (Az: IV ZR 76/11). Im Ergebnis muss der Versicherer den Vertrag rückabwickeln, so, als hätte es ihn nie gegeben. Die Krux an der Sache ist, dass viele Unternehmen sich energisch wehren. Die Verbraucherzentrale Hamburg bietet einen Onlinerechner, mit dem sich im ersten Schritt die Rückzahlung überschlägig ermitteln lässt (vzhh.de). Danach können Kunden entscheiden, ob es lohnt, den Vertrag juristisch prüfen zu lassen.
Wo finde ich einen Fachmann, wenn mir alles zu aufwendig oder heikel ist?
Wer vor den juristischen Details zurückschreckt, kann die Prüfung auch unabhängigen Experten überlassen. Der Bund der Versicherten steht Mitgliedern bei Fragen rund um Vertragskündigung oder Widerruf zur Seite (Jahresbeitrag: 60 Euro). Bei größeren Summen lohnt es oft, einen Versicherungsberater zu engagieren (Adressen: bvvb.de).
Wie groß ist das Risiko, dass ein Versicherer pleitegeht?
Das weiß im Augenblick leider niemand genau. Die Lage verschärft sich, weil die Unternehmen zugleich hohe Garantien und Eigenkapitalanforderungen bedienen müssen. Das führt zu Verwerfungen in den Bilanzen. Auf der anderen Seite hat die Branche noch Reserven, und die Bafin wacht über die Solvenz. Nach ihremjüngsten Bericht erfüllten Ende 2016 alle Anbieter in Deutschland die Solvenzanforderungen, 35 Versicherer beobachtet sie intensiv. Zur aktuellen Situation und einzelnen Anbietern schweigt die Behörde jedoch beharrlich. „Das ist ein Unding“, sagt BdV-Chef Kleinlein. Er forderte die Bafin unlängst auf, konkret zu benennen, welcher Versicherer stabil ist und „wer über dem Abgrund trudelt“. Klar ist: Kunden sollten ihre Gesellschaft im Blick behalten. Auf keinen Fall sollte man aber rentable Verträge aufgrund vager Risiken kündigen.
Welcher Teil meines Geldes ist im Pleitefall aufjeden Fall sicher?
Alle garantierten Zusagen sind gesichert – dazu zählen die garantierte Summe sowie alle Überschüsse, die dem Kundenkonto bereits gutgeschrieben wurden. Das ist der Löwenanteil des Geldes. Gerät ein deutsches Unternehmen in Schieflage, springt der gesetzliche Sicherungsfonds Protektor ein und übernimmt auch den Versicherungsschutz.
Wie stehen die Lebensversicherer nach der aktuellen Bilanzanalyse da?
„Die Branche hält sich wacker, auch wenn viel Gesellschaften inzwischen enorm unter ihren hohen Zinszusagen für alte Verträge leiden“, sagt Peter Schneider, Geschäftsführer des Analysehauses Morgen & Morgen. Seine Analysten prüften den aktuellen Bilanzjahrgang von 66 Unternehmen, die mehr als 90 Prozent des gesamten Marktes repräsentieren.
Lohnt es noch, eine neue klassische Lebens oder Rentenversicherung abzuschließen?
Eindeutig nein. Beim aktuellen Garantiezins von 0,9 Prozent ist häufig nicht mal mehr die Auszahlung der eingezahlten Beiträge gesichert, vor allem bei Versicherungen mit Laufzeiten von weniger als 25 Jahren und bei Unternehmen, die sich immer noch hohe Kosten leisten. Die Garantien sind zu teuer geworden — und auch die Gewinnbeteiligung bleibt absehbar gering. Nur für alle, denen im Alter noch sichere monatliche Einkünfte fehlen, könnte sich eine Sofortrente lohnen, bei der man einmal einen Beitrag einzahl.
Wie wirkt sich die anhaltende Krise auf die Kunden aus?
Das hängt auch von der Philosophie und Rechtsform des Versicherers ab. Wenn die Margen sinken, bekommen dies am ehesten Kunden börsennotierter Unternehmen zu spüren. Denn Aktionäre verlieren leicht den Spaß am Geschäft und sind schnell vergrault. So ist es vermutlich kein Zufall, dass mit Ergo und Generali gleich zwei große Aktiengesellschaften ihre Bestände stilllegen und Verkaufspläne hegen. De facto legten bislang (fast) nur Aktiengesellschaften ihre Verträge still. Im Gegensatz dazu können die Kunden von Versicherungsvereinen, die zugleich Mitglieder sind, eher erwarten, dass man dort für seine Kunden und Vertragsbestände kämpft.
Was verkaufen die Unternehmen noch, wenn die klassischen Policen wegfallen?
Die Branche setzt verstärkt auf Produkte mit reduzierten Garantien wie index- oder fondsgebundene Renten, die im vergangenen Jahr bereits den größten Anteil am Neugeschäft stellten. Die Leistungen der Tarife sind jedoch selbst für Fachleute schwer einzuschätzen, weil sie sich in Anlage und Garantien enorm unterscheiden. BdV-Chef Kleinlein kritisiert die Angebote als „durch die Bank zu unübersichtlich, zu intransparent und zu teuer“. Tatsächlich hat die Branche das Problem mit den hohen Gebühren nicht gelöst. Kaufinteressenten sollten daher stets nach den Effektivkosten fragen: Ein Renditeabschlag unter einem Prozent ist günstig.
Warum können Produkte mit reduzierten Garantien trotzdem sinnvoll sein?
Im Niedrigzinsumfeld sind Garantien einfach zu teuer, für Versicherer und Vorsorgesparer. Weil der Vermögensaufbau gute Renditen braucht, ist es heute selbst für risikobewusste Kunden sinnvoll, weniger Garantien zu wagen. Auf diesem Feld konkurrieren die neuen Policen direkt mit Fonds und günstigen ETF-Angeboten der Kapitalanlagegesellschaften — und sollten in puncto Kosten, Flexibilität und Auswahl mithalten können. Hier gibt es allerdings bei etlichen Anbietern noch Luft nach oben.
Wie viel Garantie ist denn heute noch sinnvoll?
Das hängt vom persönlichen Sicherheitsbedürfnis des Kunden ab. Die Deutschen tun sich traditionell schwer mit den Risiken des Kapitalmarktes und setzen lieber auf Anlagen mit hohen Sicherheiten. „Wer Risiken nicht gut verkraftet, sollte ein relativ hohes Garantieniveau zwischen 100 und 80 Prozent der eingezahlten Beiträge anpeilen“, empfiehlt Thorsten Saal, Bereichsleiter Mathematik bei Morgen & Morgen. Bei Top-Produkten mit leicht reduzierten Garantien sei das Verlustrisiko relativ gering, wenn der Kunde bis zum Ende durchhält. Im Prinzip gilt jedoch: Je höher die Garantie, desto unwahrscheinlicher werden Spitzenrenditen. Für Vorsorgesparer mit stärkeren Nerven macht es laut Experte Saal daher mehr Sinn, ganz auf Garantien zu verzichten, als eine Mini-Sicherheit von 50 Prozent einzukaufen – und dafür Renditechancen aufzugeben.