Hamburg. In einem kleinen Büro über einem Bagel-Shop im kanadischen Waterloo gründen Mike Lazaridis und Doug Fregin 1984 das Unternehmen Research In Motion (RIM). Die beiden Studenten sind Anfang 20, kennen sich seit der Highschool und studieren Ingenieurwissenschaften. Heute würde man sie Nerds nennen; in ihrer Freizeit treffen sie sich oft in Elektronik-Shops.
Die kanadischen Wirtschaftsjournalisten Jacquie McNish und Sean Silcoff erzählen diese Anekdote in ihrem Buch „Losing the Signal“. Es handelt vom Auf- und Abstieg von RIM.
In Deutschland wird im Jahr 1984 die erste E-Mail empfangen. Mobiltelefone heißen Portables, es handelt sich um Kästen mit Tragegriff, Telefonhörer und einer Antenne. Es ist eine Zeit, in der vieles zu Gold wird, nur weil man es als Erster anfasst. Zu solchen Pionieren gehören Lazaridis und Fregin. Sie beschreiben ihr Geschäftsmodell als „Electronics and Computer Science Consulting“. Ein weiterer Kommilitone, Michael Barnstijn, macht aus dem Duo ein Trio. 1986 erhalten sie den ersten großen Auftrag: Für General Motors sollen sie ein Kontrollanzeigesystem für Netzwerkcomputer entwickeln. Das Budget soll laut den Recherchen von McNish und Silcoff bei 600 000 Dollar gelegen haben.
Lazaridis bricht demnach kurz vor den Abschlussprüfungen sein Studium ab, um mit diesem Geld, weiteren 15 000 Dollar von seinen Eltern und einigen staatlichen Subventionen an der kabellosen Übertragung von Daten zu forschen. Die drei Studenten arbeiten an Modems und Pagern und legen dabei die Grundsteine für das, was wir heute mobile Endgeräte nennen.
Nur eines fehlt den Nerds: ein echter Verkäufer. Der kommt 1992, als Jim Balsillie die Wette seines Lebens eingeht: Laut der Canadian Encyclopedia nimmt er einen Kredit auf sein Haus auf und steigt mit einer sechsstelligen Summe bei RIM ein, das zu diesem Zeitpunkt zehn Mitarbeiter zählt. Knapp 20 Jahre später, im Jahr 2011, wird RIM mehr als 17000 Menschen beschäftigen und fast 20 Milliarden Dollar umsetzen — auch dank Balsillies Geschäftssinn. Seit er im Unternehmen ist, gilt bei RIM die einfache Formel: Lazaridis entwickelt, Balsillie verkauft. Das Vorstandsduo steht maßgeblich hinter dem Aufstieg von RIM. Der beginnt mit dem Verkauf von Pagern, mit denen sich ab 1996 auch Faxe und Nachrichten versenden lassen. 1997 geht RIM an die Börse in Toronto.
1998 kommt das RIM 950 Wireless Handheld auf den Markt, das als erstes Blackberry gilt. Es hat eine patentierte Tastatur, die zum Markenzeichen werden soll und zum späteren Markennamen inspiriert. Ursprünglich sollen die Geräte Leapfrog heißen. Im Buch „Losing the Signal“ ist zu lesen, wie Experten der Agentur Lexicon, die unter anderem für Intel den Namen Pentium Prozessor kreieren oder für Apple das Power Book, sich von den Tasten aber an die Kerne einer Erdbeere (Strawberry) erinnert fühlen. Weil Blackberry (Brombeere) jedoch besser klinge, fällt die Entscheidung für diesen Namen.
Jim Balsillie gelingt es, mit der Marke schnell lukrative Partnerschaften einzufädeln, mit IBM, Telefongesellschaften wie Bell Mobility, Rogers AT&T. Dank ihnen schießen die Verkäufe in die Höhe. Und mit der Listung im Nasdaq fließen der Firma 1999 circa 250 Millionen Dollar zu. RIM wächst bald zweistellig — in jedem Quartal.
Was auch immer die Kanadier auf den Markt bringen, wird gekauft. Die Manager schätzen, dass sie sich über den Blackberry-lnternetserver E-Mails auf das Gerät senden lassen können — und dass die Technik als sicher gilt. Im Frühjahr 2006 gibt es weltweit fast fünf Millionen Blackberry-Nutzer. Der Nettogewinn liegt bei knapp 400 Millionen Dollar, und mit den neuen Smartphones, die Navigationssysteme, Chat-Funktionen und Kameras enthalten, spricht man nun auch Privatkunden an. Dann kommt 2007 das iPhone.
Apple bietet das Gerät in den USA exklusiv bei AT&T an, es kostet ab 499 Dollar plus Vertrag. RIM ist zu diesem Zeitpunkt mit zehn Prozent Marktanteil die Nummer zwei hinter Nokia und erzielt für seine Geräte durch den Fokus auf Geschäftsleute überdurchschnittliche Verkaufspreise, im Mittel 345 Dollar — branchenweit liegt dieser Wert bei 248 Dollar. An der Börse erreicht die Aktie ein Allzeithoch von knapp 140 Dollar.
Der US-Telekommunikationsanbieter Verizon fordert von RIM einen „iPhone-Killer“ mit Touchscreen. Als Lazaridis ins Innere des Apple-Geräts schaut, ahnt er, dass sich gerade die Spielregeln auf dem Markt geändert haben. In dem Telefon steckt plötzlich ein Computer. Das iPhone besitzt gleich zwei Prozessoren, allein für das Betriebssystem existiert ein Speicher von 700 MB. Ein Blackberry ist damals mit insgesamt 32 MB ausgestattet. Lazaridis ist klar: „Wenn sich das Ding durchsetzt, konkurrieren wir mit einem Mac, nicht mehr mit Nokia.“
Das Modell, mit dem man das iPhone killen will, heißt Storm. Das ambitionierte und komplexeste Projekt in der Geschichte von RIM steht für einen Kulturbruch: Es besitzt einen Touchscreen. Ein Manager sagt später der Tageszeitung »Globe and Mail«, die Technik sei eilig zusammengebastelt und nicht ausgereift gewesen. Das Gerät kommt mit mehreren Monaten Verspätung auf den Markt — und wird ein Rohrkrepierer. Die aufwendige Entwicklung ist pannenanfållig, der Browser viel zu langsam, außerdem fehlt eine WLAN-Schnittstelle. Viele Kunden geben das Gerät zurück. Jim Balsillie spricht dennoch in damaligen Interviews von einem „überwältigenden Erfolg“
RIM hat es über Nacht mit einem anderen Markt zu tun. Wurde bislang alles, was man anfasste, zu Gold, will bald nichts mehr glänzen. Sean Silcoff ist der Ansicht, dass der Himmel über RIM zu lange zu blau war. Das Unternehmen hatte keinen Anlass, sich zu hinterfragen. Er beschreibt eine Firma, die mit dem eigenen Wachstum Überfordert ist. So werden etwa Stellen oft unbemerkt doppelt besetzt oder gar doppelt bezahlt.
Das Schicksal des Unternehmens besiegeln einige wenige Personen, die es verlassen. Allen voran Larry Conlee, Chief Operating Officer, der 2009 als Pensionär ausscheidet. Conlee gilt als effizienter Manager, der die Vorstände unbarmherzig zu Entscheidungen und zum Einhalten von Zeitplänen drängt. Der ehemalige Motorola-Manager war im Jahr 2000 verpflichtet worden. Ähnlich wie der Mitgründer Doug Fregin blieb er nach außen fast unsichtbar, war in der Firma aber emer der wichtigsten Köpfe. Nach Angaben des Magazins Canadian Business verkaufte RIM zum Zeitpunkt seiner Einstellung jährlich circa 400 000 Geräte. Unter Conlee explodierte diese Zahl auf mehr 30 Millionen, die in Kanada und zehn weiteren internationalen Standorten produziert und in rund 160 Länder exportiert wurden.
Sein Abgang wird von Erfolgsmeldungen überdeckt. Das Blackberry Curve ist 2009 das meistverkaufte Smartphone in den USA, noch vor dem iPhone 3. Der Marktanteil liegt in den USA nun bei mehr als 50 Prozent. Einer der Gründe: Das billigste Blackberry aller Zeiten ist für einen Bruchteil des Preises eines iPhones erhältlich; allerdings warten viele Apple-Fans lieber auf das angekündigte iPhone 4. In einem Ranking des Magazins »Forbes« der 100 schnellstwachsenden Unternehmen weltweit kommt RIM auf Platz eins. Die Firma wähnt sich ganz oben — zum letzten Mal.Der Telekommunikationsanbieter Verizon setzt nach dem Desaster mit dem Modell Storm auf Motorola und Googles Betriebssystem Android: Dorthin fließen fortan die Marketing-Etats, die bislang Blackberry erhielt. Auch Motorola und Android können Apple nicht wirklich attackieren, gewinnen aber dennoch Marktanteile, vor allem von Palm, Microsoft — und RIM.
Lazaridis erkennt, dass die Software zum Problem für das Blackberry wird. RIM kauft das Unternehmen Torch Mobile, das Internetbrowser für Smartphones entwickelt. Diese sind aber nur schwer in das in den Neunzigerjahren entwickelte Betriebssystem zu integrieren. „Wir waren nicht auf die Zukunft vorbereitet“, sagte Lazaridis später der Globe and Mail.
Der Firma fehlt eine Strategie. Sie verfolgt keine eigenen Ziele mehr, sondern hechelt der Konkurrenz hinterher. Der Wettlauf mit Apple entwickelt sich wie der zwischen Hase und Igel. RIM versucht 2008 mit einem eigenen Musik-Downloadservice iTunes Paroli zu bieten, da steht Apple bereits kurz vor der Eröffnung des App Stores. Im August 2008, wenige Wochen nach der Freischaltung, setzen die Kalifornier damit schon eine Million Dollar um — am Tag. RIM kündigt als Reaktion eilig seine App World an,
im April 2009 geht sie online — einige Monate später präsentiert Apple schon das iPad, bringt es im Januar 2010 auf den Markt. Die Kanadier brauchen mehr als ein Jahr, um ihre Antwort auf das iPad vorzustellen: Im April 2011 kommt das PlayBook in den USA auf den Markt — ein weiterer Misserfolg.
Wie verunsichert das Unternehmen in jener Zeit ist, zeigt ein Treffen mit einigen Hundert Chief Information Officers großer Unternehmen in Orlando. RIM präsentiert dort im Jahr 2010 neue Funktionen wie Spiele oder Musik. Die Reaktionen Sind unerwartet negativ: Die Manager wollen solche „privaten“ Dinge nicht auf den Geschäftstelefonen ihrer Mitarbeiter. Die Privatkunden aber scheren sich wenig um die von den Managern geschätzten Vorteile wie lange Akkulaufzeiten oder Daten- und Abhörsicherheit. Sie wollen Kameras, Spiele, Musik und vor allem Apps. Die Entwick1er solcher Apps arbeiten allerdings ungern für das Blackberry, wegen des veralteten Betriebssystems und weil sie sich von den Kanadiern in ihrer Arbeit zu stark kontrolliert fühlen.
RIM kann diesen gegenläufigen Bedürfnissen nur mit Kompromissen begegnen, schätzt den Markt aber auch falsch ein. So setzt man auf das Thema Daten- und Abhörsicherheit als wichtigstes Alleinstellungsmerkmal. Tatsächlich ist man auf diesem Gebiet dem iPhone bis zuletzt Überlegen. Mit dem Blackberry Internet Service existiert bis 2013 eine eigene Infrastruktur, über die beispielsweise E-Mails sicherer als im öffentlichen Internet versandt werden können.