Seattle. In Seattle, der Heimat der globalen Coffee-to-go-Kette Starbucks, schmeckt der Kaffee so scheußlich wie im großen Rest Amerikas. Zu dünn, die Bohnen zu scharf geröstet.
Aber Steve, 38, lange, braune Haare, zupackender Typ, stört das nicht. Sie ist nicht wegen des Kaffees gekommen und auch nicht wegen der angeblich weltbesten Käsemakkaroni von Beecher’s (dünn, geschmacklos), für die mittags Dutzende am Pike Place Market Schlange stehen. Karis ist wegen des liberalen Flairs quer durch die USA gezogen, aus Florida in den Bundesstaat Washington an der Grenze zu Kanada. Seattle gilt als links, ökologisch und genussorientiert — kurz: als ziemlich europäisch. Die meisten Amerikaner halten das für kein Kompliment. Steve hat ihre Jugend in Key West verbracht. Aber die Tochter britischer Einwanderer fand das Rentnerparadies „stupide“. Die Schule hat sie unterfordert, ein Studium konnte sie sich nicht leisten. Ihren Traum, nach Seattle zu ziehen, hat sie trotzdem wahrgemacht.
Er hat lange als Koch gearbeitet – für einen Hungerlohn, von dem er sich eine eigene Wohnung in der boomenden Metropole nicht leisten konnte. Jetzt probiert er etwas Neues: Er chauffiert die Haustiere derer, die sich weit mehr als eine Wohnung leisten können, durch die Stadt. Zum Tierarzt, zum Hundefriseur oder für 35 Dollar morgens in die Kita und abends zurück ins Townhouse. Das Geschäft laufe gut, erzählt Steve, aber eigentlich hat sie schon neue Pläne. Sie würde gerne ein Cannabis-Café nach Amsterdamer Vorbild eröffnen. Im Evergreen State allerdings darf Marihuana zwar verkauft, aber nicht vor Ort konsumiert werden — und eine Gesetzesänderung durchzusetzen werde „wohl zu lange dauern“, räumt sie ein. Statt darauf zu warten, wird sie einen Computerkurs besuchen, weil sie auch Geschäftsideen für Apps hat. Seattle ist schließlich die Heimat von Amazon, des Start-ups, das die Old Economy das Fürchten lehrt.
In Deutschland, denke ich an dieser Stelle, wäre die Enddreißigerin die ideale Kronzeugin einer SPD, die den Schutz der Schwachen propagiert. Steve’s Finanzsituation ist in Wirklichkeit prekär, fürs Alter sorgt er nicht vor. Aber die Soloselbstständige fühlt sich nicht als Opfer. Für sie ist die Welt eine immerwährende Chance, die es zu ergreifen gilt. Im Januar wird sie England, das Land ihrer Kindheit, besuchen. Leben aber will sie in Amerika.
Vor einigen Monaten noch hätte mein Urteil festgestanden: ein klarer Fall von Realitätsverweigerung. Hier aber erscheint mir Steve ungebrochener Optimismus wie die magische Essenz des amerikanischen Traums, in dem alles möglich scheint. Er jedenfalls ist sicher: Mit 50 wird sie so reich sein, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Ein Teil von mir glaubt das auch.