Bentonville (Arkansas). Manchmal muss auch ein Schwergewichtschampion noch mal ganz von vorn anfangen. Doug Mc-Millon ist der Posterboy der alten US-Wirtschaft. Der 50-Jährige hat es vom Regaleinräumer zum Chef des weltgrößten Unternehmens gebracht und nie etwas anderes gesehen als Walmart. Nun startet der Mann mit dem ungewöhnlich sanften Händedruck neu: als Bodyguard.
Walmart hat lange zugesehen, wie Amazon eine US-Handelsikone nach der anderen in die Knie zwang und auch den eigenen Filialen immer mehr zusetzte. Dann kam McMillon und führte den Koloss in ein Duell, das viele längst verloren glaubten. Während Deutschlands Einzelhändler zögern, sich Amazon in die Arme werfen oder mit billigen Kopien aufhalten, fordert McMillon Angreifer Jeff Bezos heraus. Es ist eine epische Schlacht, die sich der reichste Clan Amerikas und der reichste Internetmagnat da liefern, zwischen einem traditionellen Koloss und einem ewigen Start-up, Online gegen Offline. Der Sieger definiert die Zukunft des Einkaufens.
Der Mann, der diesen Kampf für McMilIon gewinnen soll und den er so gut es geht abschirmt, heißt Marc Lore. McMillon hat den Milliardär und Seriengründer zum bestbezahlten Manager der USA gemacht. Mehr noch: Er legt sein Schicksal in dessen Hände. Ein waghalsiges Experiment. Doch Lores Versprechen klingt wie eine Verheißung: „Wir gewinnen.“
Wenn McMillon über seinen Schützling redet, schmunzelt er. „Es macht so viel Spaß, mit ihm zu arbeiten. Marc ist extrem schnell.“ Walmarts Onlineumsatz wächst rasant, der Rückstand auf Amazon schmilzt von Tag zu Tag.
Angegriffen von Aldi und Lidl, unter digitalem Dauerfeuer von Amazon, hat McMillon erkannt, dass die Zeit abläuft. „Das ist der letzte Schuss“, sagt Ex-Walmart-Manager Venky Harinarayan.
Amerikas Einzelhändler purzeln wie die Preise am Amazon Prime Day. Allein seit Januar mussten über 300 Unternehmen Insolvenz anmelden, 10 000 Läden schließen dieses Jahr für immer. Darunter 400 Häuser der Handelsikonen Macy’s, Sears und J. C. Penney.
Während der Börsenwert von Amazon in den vergangenen zehn Jahren um 2300 Prozent auf 465 Milliarden US-Dollar anschwoll, brachen die US-Filialisten geradezu ein. Einzig Walmart konnte sich halten — und legte 170 Milliarden Dollar an Umsatz zu. Das ist mehr, als Amazon bis heute auf die Waage bringt.
Trotzdem ist Walmart, das mit Erlösen von 486 Milliarden US-Dollar größte Unternehmen der Welt, nicht mehr sexy. Ausgebeutete Mitarbeiter, Ramsch-Image und Amazons Algorithmen, die das Niedrigpreisversprechen auf die Probe stellen: Für Glamour sorgt einzig Gründerenkel und Aufsichtsratsmitglied Steuart Walton mit seiner Baywatch-Nixe Kelly Rohrbach. Während das Vermögen des Clans auf 130 Milliarden Dollar geschrumpft ist, holt Bezos mächtig auf.
Preissenkungen, teure Umbauten und ein verbessertes Angebot locken zwar wieder mehr Kunden in die gigantischen Supercenter, drücken aber aufs Ergebnis. Die 2009 intensivierten Bemühungen, im Onlinegeschäft Gas zu geben, verpufften zumeist kläglich. Da wurden Ex-Yahoo-Chefin Marissa Mayer und Instagram-CEO Kevin Systrom in den Aufsichtsrat geholt, da wurde über einen Kauf von Netflix nachgedacht, am Ende siegte stets der narkotische Rausch, einen Markt nach dem anderen zu eröffnen. Von Amazon abgeworbene Experten flohen schnell wieder vor der Bürokratie.
Mini-Bezos jagt das Original Diesen Trend soll McMillon stoppen — und umdrehen. Weggefährten beschreiben den Zahnarztsohn als perfekte Mischung aus Stallgeruch und der Fähigkeit, Dinge infrage zu stellen. Dass er mutig ist, hat er kurz nach seinem Amtsantritt Ende 2014 bewiesen, als er hinter Vorgänger Mike Duke aufräumte, 175 Filialen schloss und Milliarden für höhere Löhne ausgab.
Jetzt geht er ins Risiko. Sein Digitalo Lore ist eine Miniausgabe von Bezos — und vermutlich dessen größter Feind. Dabei sind sich beide erstaunlich ähnlich: Erfolgsbesessene Ex-Banker mit Glatze, die nicht zu großem Pathos neigen.
Sein erstes Start-up, den Ebay-Klon ThePit, verkaufte Lore 2001. Es folgte Quidsi, ein Spezialist für Babyartikel und Kosmetik, der Bezos derart auf die Nerven ging, dass er Lore per Preiskrieg in die Knie zwang und das Unternehmen für 545 Millionen Dollar schluckte. Lores Abgang zwei Jahre später gilt so manchem Experten als „größter Fehler der Firmengeschichte“.
Mit Jet, seiner nächsten Gründung, blies Lore zum Angriff. Der Algorithmus der Plattform senkt die Preise, wenn Kunden mehr Artikel beim selben Händler bestellen, per Kreditkarte zahlen oder bereit sind, länger auf die Lieferung zu warten. Binnen zwölf Monaten war die Umsatzmilliarde geknackt.
Der Stress aber machte Lore zum Wrack. Anhaltende Kritik am kapitalintensiven Geschäftsmodell und die nächtelange Suche nach Investoren mündeten in einen Brechanfall im Flugzeug. Da kam McMillons unmoralisches Angebot gerade recht: 3,3 Milliarden Dollar für ein defizitäres, gerade mal 15 Monate altes Startup. Und für den Gründer gab’s einen Vorstandsposten. Das ist, als hätte sich Edeka den jungen Oliver Samwer geschnappt und in die Chefetage befördert. Lore, der eigentlich nichts von Walmart hielt, schlug ein.
Tatsächlich passt Jet gut zu Walmart. Der Riese versucht seit Jahren, mit kleineren Formaten in die Innenstädte vorzustoßen, Jet ist bei den urbanen Millennials beliebt. Um die Walmart-Offiziellen nach dem kurzen Flirt zu überzeugen, zeichnete Lore vergangenen Sommer ein 40-Minuten-Video auf. Botschaft: „Wir müssen in die Offensive gehen.“ Wenig später stand der Deal.
https://www.youtube.com/watch?v=-JX7JHGmFMA
Seit September 2016 steuert Lore als Präsident und CEO von Walmart.com das amerikanische Onlinegeschäft des Handelsgiganten mit 15 000 Mitarbeitern — verstreut übers Silicon Valley, seine Heimat New Jersey, Boston, Omaha und den Konzernsitz in Bentonville, Arkansas. Eine kleine Armee, stark genug, um Amazon auf Augenhöhe zu begegnen.
„Marc bekommt ein paar Freiheiten, um alles zu erledigen“, sagt McMillon. Wenn man ihn im Unternehmen Marc sein lasse, werde er Großartiges vollbringen. Sein Job sei es, so der Konzernchef, dem Jungmilliardär als „Bodyguard“ den Rücken freizuhalten.
Heftige Kollateralschäden Denn was Lore als „Wir bewegen uns wirklich wie ein Start-up“ bezeichnet, kommt einer Kulturrevolution gleich. Dem auf Preise und Paletten fokussierten Dinosaurier wird eine neue DNA injiziert. „Walmart konzentriert sich auf die Outputs, für uns stehen die Inputs im Vordergrund: Führen wir alle Produkte, die unsere Kunden kaufen möchten, sind sie gut auffindbar, stimmen die Preise, sind die Informationen korrekt?“ Sätze, die auch von Bezos stammen könnten.
Wie bei Amazon spielen die Quartalsergebnisse flir die Vergütung von Walmarts Digitalos nur eine untergeordnete Rolle. Alle Kraft geht ins rasant wachsende Sortiment.
Statt 10 Millionen verkauft Walmart online inzwischen 67 Millionen Produkte (Amazon: 350 Millionen). „Topmarken schrecken beim Namen Walmart zurück“, sagt der Chef eines Elektronikherstellers. Dank Jet gebe es nun „eine echte Alternative“ zum immer aggressiveren Amazon.
Floss zuletzt rund die Hälfte des jährlichen Investitionsbudgets von 12 Milliarden Dollar in neue Läden, darf jetzt Lore den Löwenanteil ausgeben und auf Shoppingtour gehen. Auf den Internetschuhhändler ShoeBuy (70 Millionen Dollar) folgten der Outdoorspezialist Moosejaw (51 Millionen Dollar) sowie die Mode-Eigenmarken-Spezialisten ModCloth (50 Millionen Dollar) und Bonobos (310 Millionen Dollar). In Kürze soll der Kosmetikhändler Birchbox hinzukommen.
Die Marken bleiben erhalten, Marketing, IT und Einkauf werden zusammengelegt. Um Platz für junge Talente wie Bonobos-CEO Andy Dunn zu schaffen, hat Lore über 200 Walmart-Leute gefeuert.
Immer häufiger krachen die Rivalen frontal aufeinander. Als Lore ShippingPass abschafft, Walmarts Antwort auf Amazons Kundenbindungsprogramm Prime, weil er Bestellungen ab 35 Dollar innerhalb von zwei Tagen umsonst versenden will, reduziert Amazon umgehend die Schwelle für kostenlose Lieferungen von 49 auf 35 Dollar. Nun fordert Walmart seine Lieferanten auf, Amazons Gewinnmaschine, den Clouddienstleister AWS, zu meiden. Mitunter wird es gar persönlich. Lores Start-up Quidsi sei nicht profitabel zu betreiben und werde eingestellt, teilte Amazon mit. Eine öffentliche Diskreditierung. Botschaft: Lore hat es nicht drauf.
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Im zweiten Quartal ist der Onlineumsatz von Walmart um 60 Prozent gestiegen. Marktforscher t rechnen für 2017 mit einer Verdoppelung der Erlöse auf 18 bis 20 Milliarden Dollar. Schon heute ist der Händler vor Ebay die Nummer zwei in den USA.
Was Amazon ernsthaft Sorge bereitet, sind Walmarts Einkaufsmacht und der logistische Vorteil. 90 Prozent der US-Bevölkerung hätten eine Filiale inh Umkreis von durchschnittlich 16 Kilometern, sagt McMillon. „Eine Integration der Läden mit dem Onlinegeschäft wird den Unterschied machen.“ Lore stehen dazu 4700 Filialen, Hunderte Lager und 6200 Lkw zur Verfügung.
„Es wird verdammt schwer, den Umsatzanteil der Internethändler auf mehr als 25 Prozent zu steigern“, sagt ein früherer AmazonManager. Vor allem für die beiden wichtigsten Segmente, Mode und Lebensmittel, bedürfe es auch eines Filialnetzes.
Bezos hat die Zeichen der Zeit erkannt und investiert nicht nur in Ei genmarken, neueste Fototechnik und Logistik. Mit dem Kauf von Whole Foods greift er auch stationär an. 14 Milliarden Dollar sind ihm die 460 Filialen (Umsatz: 16 Milliarden Dollar) wert. Die Kunden des Biohändlers passen perfekt zu Amazons Prime-Klientel. „Wir haben uns Iange um Whole Foods bemüht. Eine nationale Ladenkette aufzubauen hätte fünf Jahre gekostet und wäre nicht billiger gewesen“, sagt ein Insider. Abholstationen und der nahezu vollautomatische Testmarkt Amazon Go erweitern das Arsenal.
Kameras erkennen Gefühle Nun steht der Internetkonzern vor einer völlig neuen Herausforderung. Die Mitarbeiter bei Whole Foods genießen viele Mitbestimmungsrechte. „Das Stationärgeschäft wird ein Kulturschock“, sagt ein früherer Amazon-Manager. „Ob Walmart oder Amazon: Es wird spannend, wer die bessere Lösung findet.“
Was Walmart vorhat, lässt sich in den ersten Filialen beobachten und in Patentregistern nachlesen. Ein gigantischer orangefarbener Turm (Codename Rapunzel) mit Platz für bis zu 300 Bestellungen spuckt innerhalb weniger Sekunden Warenkörbe aus. Wer Hartwaren im Markt abholt, bekommt Rabatt. Die App Scan&Go verwandelt das Smartphone in ein Lesegerät, mit dem Kunden ihre Einkäufe selbst scannen und direkt bezahlen können.
Jeder per Kreditkarte bezahlte Artikel erscheint mithilfe des Service Easy Reorder automatisch im virtuellen Einkaufskorb. Zur Nachbestellung genügt ein Klick. Wenn die über eine Million amerikanischen Walmart-Mitarbeiter auf dem Nachhauseweg Paketbote spielen, verdienen sie etwas dazu. In New York hat der Konzern 1000 Gebäude mit elektronischen Schlössern ausgerüstet, damit Zusteller die Waren per Zugangscode direkt in die Küche bringen können. Derzeit läuft ein Test für die Belieferung am Tag der Bestellung.
Künftig sollen Kameras die Gefühle der Kunden in der Kassenschlange erkennen, um den Genervten entgegenzukommen. „Wir machen Tempo“, sagt Lore. „Das ist das Einzige, was ich kenne.“ Dabei helfen soll die konzerneigene Start-up-Schmiede Store No 8 im Silicon Valley. Dort wird an virtueller Realität, Drohnen und personalisiertem Einkauf gefeilt. „Wir entwickeln Unternehmen, die den Einzelhandel verändern. Nicht heute, aber in fünf oder zehn Jahren“, so Lore. „Wir denken größer.“
„Wenn Walmart so weitermacht“, sagt ein Handelsexperte, „kann der Konzern als einziger Einzelhändler der Welt online zu Amazon aufschließen.“ Allerdings ist der technologische Vorsprung des Internetriesen aus Seattle gewaltig. Amazons Sprachsteuerung Alexa dringt schneller als erwartet in die Haushalte vor. Niemand kann seriös prognostizieren, wie stark dieser Erfindungsgeist den Wettbewerb verändert.
Immerhin hat Walmart aus einem vermeintlich kapitalen Fehler von Amazon gelernt: Lore wird fürstlich entlohnt. Mit 244 Millionen Dollar verdiente er in seinem ersten Jahr zehnmal so viel wie McMillon. Und: Um sein gesamtes Aktienpaket in Höhe von 242 Millionen Dollar zu erhalten, muss er fünf Jahre bleiben. So lange läuft auch seine Wettbewerbssperre.
„Die Frage ist“, sagt ein Walmart-Manager, „ob ein Unternehmer wie er so lange in einem so politischen Umfeld durchhält.“ Mit seinem prämierten Weingut im kalifornischen Napa Valley hat sich der Bruce-Springsteen-Fan längst einen lauschigen Ruhesitz geschaffen. Vieles wird davon abhängen, wie sehr Lore sich und Bezos beweisen will, dass er seine Ideen auch in ein profitables Geschäft ummünzen kann.
Bisher spricht vieles für eine Sensation. „Doug McMillon hat alle Versprechen eingehalten“, sagt Scott Friend, Manager bei Bain Capital Ventures, ein früherer Jet-Aktionär. „Das ist absolut außergewöhnlich. Wenn ein Zukauf die Chance einer echten Transformation bietet, dann dieser.“
Das bestätigt auch Lore in einem seiner seltenen Interviews. „Für einen Unternehmer bedeutet Freiheit alles. Der Schlüssel zum Erfolg ist, dass Doug den Prozess als CEO vorantreibt.“
Eine solche Konsequenz lassen deutsche Händler vermissen. Der Wettbewerb läuft vor allem über den Preis, die ExpanSion treibt das Wachstum. Edeka und Rewe prügeln sich lieber jahrelang vor Gericht um ein marodes Filialnetz von Tengelmann, als auf digitale Innovationen zu setzen. Konzerne wie Otto und Real kopieren das Marktplatzmodell, Rossmann dient sich Amazon als Partner an. Und während Aldi online kaum in Erscheinung tritt, fährt Lidl seine Bemühungen gar herunter. „Alle sind nervös, aber niemand findet die Silberkugel“, resümiert der Vorstand eines Handelsriesen selbstkritisch. Ein AmazonMann wird noch deutlicher: „Diese RatIosigkeit wird noch sehr teuer.“
McMillon riskiert derweil für sein Versprechen, ein „Unternehmen der Zukunft“ zu schaffen, seine Karriere. „Er hat erkannt, dass er die Digitalorganisation vor dem übermächtigen Stationärgeschäft schützen und die Innovationskraft der eingekauften Unternehmertypen erhalten muss“, sagt der Onlinechef eines deutschen Händlers. „Ob und wie lange das gelingt, hängt vom kurzfristigen Erfolg ab. Gleichzeitig darf die Stationäreinheit nicht das Gefühl bekommen, nur noch zweite Wahl zu sein.“ Geräuschlos verläuft die vermeintliche Traumehe natürlich auch in Bentonville nicht. Bisher haben McMillon und Lore die Beziehungsprobleme aber stets in den Griff bekommen. Nachdem der prüde Koloss die bei Jet üblichen Trinkgelage untersagt hatte, kippte die Stimmung. Inzwischen gehört Hochprozentiges wieder zum Arbeitsalltag der Digitalos. Vielleicht können beide Welten eines Tages ja auf einen spektakulärer Sieg anstoßen.