Berlin. Neuerdings macht ein neues altes Thema die große Runde in den Medien. Das Stichwort lautet Gentrifizierung. Und wenn von Gentrifizierung gesprochen wird, dann fällt als erstes immer der Name einer Stadt bzw. eines Bundeslandes: Berlin. Zudem wird Gentrifizierung stets mit etwas Negativem verbunden. Doch worum geht es hier genau und was hat die Gentrifizierung für Auswirkungen? Warum spielt hierbei gerade Berlin die Rolle des Protagonisten? In Verbindung mit der Klärung dieser Fragen hat sich das Transatlantic-Team zusammengesetzt und eine Vorher-Nachher-Story zu Berlin erstellt, nicht zuletzt, weil die Hauptstadt schon immer die primae partes der deutschen Geschichte darstellte und weil nirgendwo in Deutschland so viele Menschen leben wie in dieser Metropole.
Berlin, die Stadt der „Großen“ wie Friedrich II. und Alexander Humboldt, die Stadt der Pioniere wie Werner von Siemens und Manfred von Ardenne, die Hochburg der Tüftler, Künstler, Dichter und Denker ist über 62.000 Jahre alt und war schon immer ein geschichtsträchtiger Ort. Vor 60.000 Jahren v.Chr. beherrschten Neandertaler noch das Feuchtgebiet. Drum gaben ihr die Slawen im 13. Jahrhundert auch den Namen Berlin. Denn in der slawischen Sprache bedeutet br‘lo oder berlo so viel wie Sumpf oder Morast und der damals für Ortsnamen verwendete Suffix -in vollendet somit den Namen Berlin, also „Ort im Sumpf“. Somit stammt dieser auch nicht, wie so oft angenommen, vom Berliner Bären ab, sondern von jenen, die vor über 800 Jahren das Gebiet besiedelten. Unsere Geschichte fängt jedoch viel später an.
Seit dem 17. Jahrhundert hat Berlin so einiges ertragen müssen. Durch den 30-jährigen Krieg verlor die Stadt ein Drittel ihrer Häuser und die Hälfte ihrer Einwohner. Mit dem Beginn der ersten Weltkrieges 1914 geriet sie wieder ins Visier der Gegner. Durch die Herrschaft Adolf Hitlers spielte Berlin wieder die Hauptrolle. Sie sollte unter dem Namen „Germania“ zur Welthauptstadt erkoren werden. Unter der Leitung Albert Speers, Hitlers selbsternannten „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“, sollte Berlin so groß wie das einstige Ägypten, Babylon oder Rom und mit nichts anderem vergleichbar gemacht werden. Als dann der zweite Weltkrieg im Jahre 1939 begann und bis 1945 seinen Lauf nahm, erlebte die damalige Reichshauptstadt wieder die zerstörerische Gewalt von Bomben, Panzern und anderen Kriegswaffen. Berlin wurde nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Vom Wirtschaftswunder der 20er blieb nichts übrig. Knapp 30 Quadratkilometer lagen in Trümmern, über die Hälfte der Stadt bestand nur noch aus Ruinen und verlor 1,5 Millionen Einwohner. Nachdem Berlin unter den vier Siegermächten Frankreich, USA, Großbritannien und Sowjetunion aufgeteilt wurde versuchte die Sowjetunion, West-Berlin wirtschaftlich mit dem Osten zu verankern, was kläglich misslang und die „Wessies“ weiter in die Arme Westdeutschlands trieb. Dies führte später zum Bau der Berliner Mauer. Ab diesem Zeitpunkt entwickelten sich beide Teile der Hauptstadt sehr unterschiedlich. Während der westliche Teil von der Bundesregierung massiv subventioniert wurde, wichtige Bauten wie das Europa-Center, die Deutsche Oper, Berliner Philharmonie oder die Staatsbibliothek entstanden und somit Zeiten des Wohltandes wieder eintraten, wurden im Osten immer noch Nahrungsmittel rationiert, Fabriken, Bauernhöfe und Betriebe verstaatlicht sowie unter Staatschef Erich Honecker Grundnahrungsmittel, Produkte und Dienstleistungen subventioniert, um nach außen hin die DDR als fortgeschrittene Nation präsentieren zu können. Doch viele Amtshandlungen Honeckers führten letztendlich zu einer leeren Haushaltskasse, weshalb die Deutsch Demokratische Republik Krisen wie große Ölkrise in den 70ern, nicht so leicht wegstecken konnte, wie der Rest der Bundesrepublik.
Nach Kriegsende musste ein dringendes Problem primär gelöst werden: Wohnraum. Hierbei genießt die ehemalige DDR mit ihren zahlreichen Projekten des Wiederaufbaus, der Restauration, Sanierung und des Neubaus auch die Anerkennung des Westens. Gerade die Wertschätzung der Altbauten wurde mit dem 1979 erlassenen Abrissverbot manifestiert. 1973 wurden die Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten im Prenzlauer Berg um den Arkonaplatz begonnen, die bis in die 1980er andauerten. Ebenso wurde die bekannte Husemannstraße oder auch die Sophienstraße mühselig restauriert. Und dennoch wurde mehr neu gebaut statt saniert. Rund 200.000 Wohnungen wurden in der Zeit zwischen 1977 bis 1990 in Ost-Berlin errichtet – davon rund 20.000 saniert. Durch diese riesigen Neubauprojekte entstanden unter anderem neue Bezirke wie Marzahn, Hellersdorf oder Hohenschönhausen.
Mit dem Mauerfall 1989 und dem Einigungsvertrag wurde Berlin sodann zur Hauptstadt Deutschlands erkoren, die Alliierten verzichteten auf die Kontrolle über die Stadt und ein Berg an Aufgaben zur Wiedervereinigung beider Stadthälften kamen auf beide Bürgermeister, Tino Schwierzina (Ost-Berlin) und Walter Momper (West-Berlin), zu, die es schnellstmöglich zu bewältigen galt. Zu diesen zählte immer noch das Lösen des nach wie vor bestehenden Wohnungsmangels. Nach der Wiedervereinigung sahen viele Investoren hohes Potential in Berlins Wachstum, was dazu führte, dass Unmengen an Geld in die Stadt flossen und ein Bauboom ausgelöst wurde. Jährlich wurden ca. 20.000 Gewerbe- und Wohnimmobilien aus dem Boden gestampft. Denn die bereits in den 70ern gestartete Hausbesetzungsbewegung nahm weiter ihren Lauf und wurde wie damals nicht mehr geduldet. Insbesondere Studenten, Familien und Ausländer protestierten durch eine offene oder stille Besetzung unter anderem gegen spekulativen Leerstand, der von Eigentümern gern genutzt wurde, um bei drastisch gestiegener Nachfrage die Immobilien zu verkaufen oder zu höheren Preisen zu vermieten. Die sonst obdachlosen Studenten zogen es dementsprechend vor, sich in leerstehende Häuser einzunisten und entweder mit Bannern und Transparenten der Bevölkerung offenkundig ihre Meinung kundzugeben oder unauffällig die warme und vor schlechtem Wetter schützende Behausung für sich in Anspruch zu nehmen, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. 1990 kam es dann zu schweren Straßenschlachten zwischen den Besetzern und der Polizei. Schauplatz: Friedrichshain. 3.000 Beamte rückten vor, um die besetzten Häuser zu räumen – mit Erfolg. Danach wurden viele Häuser durch Mietverträge legalisiert oder durch Kauf saniert und wieder vermietet.
Seit 5 Jahren nun soll es keine besetzten Häuser mehr geben. Diskussionen über die Rigaer Straße in Friedrichshain laufen noch, obwohl dort offiziell Mieter wohnen. Die Frage lautet, ob es wieder zu einer Hausbesetzung kommen könnte…Der Wohnungsmarkt ist nämlich angespannter denn je. Durch den Zustrom der Flüchtlinge in den letzten Jahren und durch die teilweise totale Abkehr der Berliner Politik vom Sozialbau werden die Vermieter bei neu zu vermietenden Wohnungen mit Anfragen und Bewerbungen nahezu überrollt. Bei Wohnungsbesichtigungen stehen die Menschen Schlange wie beim Ausverkauf. In einigermaßen anständigen Gegenden zahlt man mehr als ein Drittel, in Szenegebieten wie Kreuzberg oder Prenzlauer Berg sogar fast die Hälfte, seines Einkommens für eine Wohnung. Wenn man dann schon eine bezahlbare Wohnung hat und plötzlich die Sanierung vor der Tür steht und auf diese extravaganten Mietpreiserhöhungen folgen, ist es nicht verwunderlich, dass dann die Bewohner auf die Barrikaden gehen. Das Bild des Prenzlauer Berges hat sich in den vergangenen 20 Jahren drastisch verändert. Viele Immobilieninvestoren sahen Potenzial in diesem mittlerweile sehr beliebten Bezirk und ließen durch kostspielige Sanierungs-, Restaurierungs- und Modernisierungsprojekte die Mieten in die Höhe schießen. Dementsprechend veränderte sich auch die dort angesiedelte Bevölkerungsschicht – im Schnellspurt. Dieser Prozess der nahezu vollständigen Verdrängung einer Bevölkerungsschicht durch eine andere nennt man Gentrifizierung. Dies ist vor allem in ganz Berlin, aber auch in der gesamten Bundesrepublik zu beobachten. Es ist auch mit der stetig wachsenden Nachfrage nach sogenannten „Altbauklassikern“ verbunden, typische Altbauten aus dem 20., teilweise sogar noch aus dem 19. Jahrhundert, für viel Geld zu sanieren, um aus diesen Luxus-Appartements zu machen und sie an die entsprechende Klientel zu vermieten oder zu verkaufen. Für die Betroffenen Mieter und Kritiker der Immobilieninvestoren ist es verständlicherweise ein schändliches Treiben der Immobilienentwickler, ihnen ihren Wohnraum zu rauben und sie regelrecht aus dem Bezirk zu vertreiben. Doch wie immer gibt es auch hier zwei Seiten. Sieht man sich die Bilder des Prenzlauer Bergs beispielsweise in der Zeit zwischen 1945 und 1997 an, dann gesteht ein jeder sich ein, dass der Bezirk geprägt war von Verwahrlosung, Zerstörung und Zerfall. Schutthaufen, illegale Sperrmüllanlagen und marode Gebäude prägten das Stadtbild. Da man allerdings das Potenzial im Prenzlauer Berg erkannte und die Schönheit hinter all den Trümmern, Müllbergen und grauen, heruntergekommenen Gebäuden sah, wollte man durch Investitionen aus diesem nahezu trostlosen Ort einen neuen Bezirk zum Wohlfühlen glorifizieren. Heute ist dieser Stadtteil besonders beliebt bei Familien und Künstlern. Von der belebten Schönhauser Alle, die ins Szenegebiet um die Kastanienallee mündet, gehen zahlreiche Straßen ab, in denen man ruhige, grüne Ecken und Flächen findet, um dem Großstadttrubel entfliehen zu können. Der Mauerpark ist ein berühmtes und bei Touristen genauso wie bei Berlinern beliebtes Stückchen Erde, wo man auf Sparfüchse beim Flohmarkt, Hobbymusiker beim Karaoke, Straßenkünstler und viele weitere Menschen aus jeder Kultur trifft. Auch Kreuzberg, ein Bezirk, der früher unter dem Namen „Klein Istanbul“ bekannt war, ist nun nach einigen großen Geldflüssen zu einem beliebten Szenebezirk geworden. Früher von Hausbesetzern hart umkämpft, heute Heimatort für unter anderem die alternative Szene und Musiker.
Schaut man sich aktuelle Fälle der Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern eines Hauses und den Immobilienentwicklern an, die es modernisieren wollen, wie zum Beispiel in der Winsstraße oder Kopenhagener Straße, dann blutet das Herz mit bei dem Gedanken, wie mit den Menschen umgegangen wird. Doch in Anbetracht der Gesamtsituation mit allen Hintergrundinformationen sollte man tatsächlich nicht die Schuld bei den Immobilienentwicklern oder den Investoren suchen, die dafür Geld bezahlen. Der grundsätzliche Wohnungsmangel lässt es so weit kommen, dass Menschen mit einem normalen Einkommen kein anständiges Dach über dem Kopf mehr finden können. Gewiss ist dieses Problem an die Politik adressiert, da sie dazu verpflichtet ist, ihren Bürgern genug Wohnraum zu gewährleisten. Lang genug schon ist dieses Thema Gegenstand von Diskussionen und Wahlversprechen gewesen und lang genug schon mussten die Bundesbürger auf Verbesserung der Wohnsituation warten. Der nur schleichend voranschreitende Prozess von Neubauten zieht sich in die Länge und sorgt für mehr Aufruhr. Zudem wirkt dieser der Gesamtsituation, die sich durch die stetig steigende Zahl der in Deutschland hilfesuchenden Flüchtlinge aus Krisenländern immer weiter verschärft, im geringsten Maße entgegen. Stattdessen ist laut einer umfassenden Studie bezüglich der Gentrifizierung erkennbar, dass die Städtische Politik absichtlich und voller Freude private Geldgeber in die Stadt investieren lässt, damit kommunale Budgets von Sanierungsarbeiten verschont bleiben. Viele Gegner und Kritiker dieses Prozesses haben bei der Befragung auch genau das geäußert. “Man hat ein ganz bewusstes Interesse dran, an massiver Aufwertung, mindestens der Innenstadtbereiche. Man will auch ganz bewusst Leute von außen in die Stadt holen, die mit Geld reinkommen“, so berichtet ein an der Studie teilnehmender Akteur aus Berlin.
Bundesbauministerin Hendricks jedoch verteidigt sich mit den in dieser Legislaturperiode erfolgreich abgeschlossenen Neubauten und den weiteren jährlich geplanten 350.000 Bauprojekten. Wenn man allerdings die Anzahl der Eigentumswohnungen außer Acht lässt, ist die der Sozialbauten doch sehr überschaubar. 80.000 bis 120.000 bezahlbare und geförderte Wohnungen würden laut Berliner Mietervereins fehlen. Denn über die Hälfte der Berliner hätten Anspruch auf eine Sozialwohnung. Nach dem geplanten Anstieg des für den Wohnberechtigungsschein (WBS) benötigten Höchsteinkommens wären es sogar zwei Drittel der Einwohner, die einen Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten, aber gar keine Chance haben, eine zu bekommen, weil schlichtweg nicht genug vorhanden sind.
Zudem lässt sich anhand besagter Studie feststellen, dass es bei den meisten Modernisierungsmaßnahmen an Gebäuden nicht etwa um ganze Straßenzüge oder um die Umwandlung in Luxusappartements geht, sondern vielmehr um die Aufrüstung der Objekte in die heute geltenden Standards. Weiterhin sieht die Mehrheit der in der Studie Befragten die Umstrukturierung ihrer jeweiligen Stadt nicht etwa als Problem der „Verdrängung von alten Mietern“, sondern als „ganz normale“ und eher positive „Entwicklung von Gebieten“. Insofern stach hierbei heraus, dass den meisten der Unterschied zwischen Entwicklung und Gentrifizierung gar nicht bekannt sei. Die Befragten begrüßten die städtischen Projekte, da sie diese als Aufwertung verstanden. Straßenzüge, „die eigentlich tot waren oder wo nix war und keiner hin wollte“ sind nun gefragt, belebt und wunderschön gestaltet. Und meistens werde die Entwicklung von Wohnraum als Umwandlung in Luxusappartements verstanden, was häufig nicht der Fall ist. Im Grunde genommen ginge es lediglich um die Verschönerung, Aufwertung, Anlockung von Menschen, die dann die Wirtschaft ankurbeln.
Schlussendlich lässt sich sagen, dass Gentrifizierung ein stets da gewesener, allseits bekannter und nicht aufzuhaltender Prozess ist, über den zunächst einmal die breite Bevölkerung aufgeklärt werden muss, da es oft missverstanden und mit Verdrängung oder gar Vertreibung in Verbindung gebracht wird. Einen Buhmann sucht man immer, welcher in diesem Fall die Immobilieninvestoren sowie -entwickler darstellen. Zudem sind sich diejenigen, die sich mit dem Thema näher befasst und aktiv oder passiv auseinandergesetzt haben, einig darüber, dass es ein von der Politik zu lösendes Problem darstellt und erst gar keines wäre, wenn diese adäquat und rechtzeitig darauf reagiert hätte. Konkrete Lösungsansätze wie zahlreiche Neubauprojekte im Rekordtempo gibt es auch schon, nun hofft man lediglich auf eine entsprechende Umsetzung dieser. Denn wird dem Wohnungsmangel nicht bald entgegengewirkt, könnte es weitaus tragreichere Probleme mit sich bringen, als man sich vorstellen kann. Dazu gehört zum Beispiel eine neue Welle von Hausbesetzungen und Straßenschlachten.