Paris. Erst um kurz vor 19 Uhr kommt Claire O’Petit aus dem Ausschuss der Nationalversammlung. Völlig erledigt. „Ich weiß nicht, wie ich das durchhalten soll“, stöhnt die 67-Jährige. „Wer behauptet, dass Politiker nicht arbeiten, hat keine Ahnung.“
Der Witz ist, dass Madame O’Petit, die neue Abgeordnete von Saint-Denis im Norden von Paris, bis vor Kurzem selbst so geredet hat. Bis zur Rente hatte sie einen Laden. Erst einen Hundesalon. Nachdem ein Hund sie gebissen hatte, versuchte sie es (erfolglos) mit Luxuswäsche. Als Vorsitzende des lokalen Kleinunternehmerverbands erlangte O’Petit dann eine gewisse Berühmtheit, als sie in einer Radiosendung über untätige Politiker, ausbleibende Reformen, irrsinnige Sozialgesetze und das Leid der Kleingewerbetreibenden klagte. Jetzt steht sie zwischen den Marmorsäulen der Nationalversammlung und ist als Vertreterin der Bewegung „En Marche! “ des neuen Präsidenten Emmanuel Macron selbst mitverantwortlich dafür, wie es läuft im Land. „Ich will mich nicht beschweren“, sagt sie. „Aber es ist schon eine Last.“
Wie tief die Wahl von Macron Frankreich und sein politisches System durcheinandergeworfen hat, lässt sich in diesen Tagen im Juli überall im Palais Bourbon beobachten: in jenem Palast, den die Revolutionäre vor fast 230 Jahren den Königen entrissen, um ein wenig später die Vertreter des Volkes darin unterzubringen. Beinahe scheint es jetzt wieder wie damals: Die Wahl Macrons und die folgenden Parlamentswahlen haben den Großteil der herrschenden politischen Klasse aus den Palästen der Hauptstadt gefegt. Von 577 Abgeordneten sind 431 neu im Parlament, 189 davon haben keinerlei politische Erfahrung. Es sind Leute, die (wie O’Petit) mit Verachtung auf das Treiben in Paris geschaut haben. Einer ist Feuerwehrmann, einer Pilot, eine war mal Schlagersängerin. Es gibt einen Spitzenmathematiker, Biobauern, Polizistinnen und Taxiunternehmer. Die meisten kommen aus der Privatwirtschaft, viele aus Startups, wo Macron systematisch Leute für den politischen Neuanfang eingesammelt hat. Und viele hätten vor einem Jahr nicht im Traum daran gedacht, Volksvertreter zu werden.
Die Wahl in Frankreich war ein Beben. 75 Prozent der Abgeordneten sind neu im Parlament, viele waren Unternehmer, Piloten oder Biobauern. Was haben sie nun vor?
Das Transatlantic Journal hat einige der neuen getroffen. Denn an ihnen liegt es, ob Macrons ehrgeiziges Reformprojekt eine Chance hat. Zwar hat das Parlament in Frankreich traditionell weniger Einfluss auf die Gesetzgebung als etwa der Bundestag. Zwar hat Macron schon im Vorhinein angekündigt, bei seinem wichtigsten Vorhaben die Nationalversammlung weitgehend zu umgehen — der Arbeitsmarktreform, mit der er den Kündigungsschutz lockern und gleichzeitig die soziale Absicherung stärken will. Aber ob die Stimmung im Volk hält; ob es dabei bleibt, kratie. Denn die Macron-Revolution spült Leute nach oben, die eine Karriere im Privatsektor allein nicht erfüllt — sie wollen etwas verändern. So wie Bénedicte Peyrol: Mit 26 ist sie noch nicht mal die Jüngste der Macronisten, sie hat mit einem Fulbright-Stipendium studiert und eine vielversprechende Konzernkarriere als Steuerexpertin für das politische Abenteuer aufgegeben. „Es ist ein Risiko“, sagt sie. Ihre Eltern aus einfachen Verhältnissen hatten Angst um ihre Zukunft, aber jetzt sitzt sie bei Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und diktiert ihm ihr Konzept für eine Ökosteuerreform. „Immerhin, er hat sich Notizen gemacht“, sagt sie.
Ihre Kollegin Cendra Motin ist an einer anderen Schlüsselstelle angekommen. Die 42-Jährige hat eine Personalagentur mit vier Beschäftigten in Lyons Problemvorort Vaulx-en-Velin hochgezogen, doch als Macron seine Kandidatur erklärte, nahm die Mutter zweier kleiner Kinder spontan zwei Wochen frei, um Wahlkampf zu machen. Ihre Fraktionskollegen haben Motin jetzt zur Vizepräsidentin der Nationalversammlung gewählt. Motin ist eine fröhliche Frau, aber die Kämpfe, sagt sie, zwischen den Alten und den Neuen haben erst begonnen: „Das Ancien Régime will nicht loslassen.“ Und auch in der Macron-Fraktion gibt es genug, die vorher schon dabei waren, nur die Seiten gewechselt haben. Die Kämpfe seien brutal, aber Motin ist nicht bang. „Die meisten von uns kommen aus der Privatwirtschaft, wir haben alle gelernt, wie man nach Niederlagen weitermacht.“
Dass die Menschen an der Basis mitmachen, oder ob der Apparat mit seinen Beamten und Institutionen siegt: All das hängt vor allem an den neuen Abgeordneten.
Es ist der 4. Juli, heute gibt Macrons Premier Edouard Philippe seine Regierungserklärung. Am Vortag hat der Präsident selbst die Parlamentarier drüben nach Versailles gerufen, um die Linie auszugeben. Bezeichnend, dass die neue Macht am Anfang zwei Gesetze mit der gleichen Dringlichkeit durchpeitschen will: einerseits die Sozialreform, die die Abgabenlast senken sowie Kündigungen und Weiterbildungen vereinfachen soll. Sie soll der Schlüssel zu Frankreichs Transformation sein. Andererseits das sogenannte Gesetz zur Moralisierung der Politik: keine Doppel- und Dreifachmandate mehr, Transparenz, Abschaffung von Sonderrenten für Politiker, später Verkleinerung des Parlaments. Das Kalkül: Erst wenn die Leute glauben, dass die Neuen für das Land arbeiten statt für sich selbst, erst dann werden die Franzosen auch die Sozialreformen dulden.
Die Neu-Abgeordneten müssen den Wandel in die Winkel des Landes tragen, gleichzeitig die Provinz wieder an die verhasste Hauptstadt heranführen, indem sie wirklich mitreden. Normalerweise würde das Parlament in Kürze für zwei Monate schließen, doch sie haben die Pause auf drei Wochen im August verkürzt.
Momentan regiert der Zauber des Anfangs. Es gibt noch keine Büros und Mitarbeiter, die Abgeordneten schlafen auf Klappliegen im Parlamentsblock, erste Kämpfe und Konflikte tragen sie in aller Vorsicht aus. „Wie im Ferienlager“, sagt O’Petit.
Sira Sylla hat wenige Monate alte Fotos einer Plenarsitzung neben Bilder der neuen Nationalversammlung gelegt. „Der Unterschied ist unglaublich“, sagt sie. Sylla, 37, wuchs in einer senegalesischen Familie mit zehn Geschwistern auf, hat als Arbeitsrechtlerin Karriere gemacht und keine politische Erfahrung. Trotzdem hat sie in Rouen den Parlamentssitz des bisherigen Außen ministers Laurent Fabius gewonnen, eines politischen Schwergewichts.
Was Sylla mit ihrer Betrachtung meint: Die neue Mehrheit ist jünger, weiblicher, bunter. Viele sind Vertreter jener 30-, 40-, 50-Jährigen, die sich nicht von den alten Funktionären und Besitzstandswahrern und ebenso wenig von den jungen Angstgeleiteten des Front National das Land kaputtmachen lassen wollen. Es ist, vage beschrieben, jene Gruppe, die Macron maßgeblich an die Macht gebracht hat. Obwohl mehr als 66 Prozent der Stimmen auf ihn entfielen, ist die Gruppe längst kein mehrheitsfähiger Bevölkerungsteil, was auch die hohe Wahlenthaltung bei den Parlamentswahlen zeigt.
Aber man bildet Strukturen aus bei „En Marche!“. Und unter den Beteiligten, auch hier im Parlament, herrscht ein Optimismus, den Frankreich lange nicht erlebt hat.
Wenn das Experiment in Paris gelingt, kann es über Frankreich hinaus zu einem Vorbild werden, zu einem Jungbrunnen für die Demonstranten.