Herzogenrauch. Als Herbert Hainer im März 2001 Chef von Adidas wird, sieht er ein wenig aus wie seine Firma: sehr deutsch und alles andere als cool. Eine eckige Brille und ein trapezförmiger Schnäuzer dominieren sein Gesicht, Anzug und Krawatte sind gesetzt. Und dann erst der bayerische Einschlag im Englischen, der Muttersprache seiner Branche.
Zu den Produkten seines Hauses, all den Sneakers, Shirts, Skiern oder Schlägern, scheint der neue Spitzenmann ebenso wenig passen zu wollen wie zu den prominenten Markenträgern, schillernden Showsportlern wie dem Fußballer David Beckham, der Tennisspielerin Anna Kournikova oder dem Basketballer Kobe Bryant.
Was für ein Gegensatz zu Hainers Vorgänger Robert Louis-Dreyfus! Der Franzose mit dem Wuschelkopf war 1993 bei Adidas eingestiegen, hatte den taumelnden Konzern gerettet, 1995 an die Börse geführt und dabei Kasse gemacht. Er war als Vorstandschef Weltklasse im Bezirzen von Kunden aller Art und dehnte für einen guten Deal die Regeln des Statthaften wie ein Stretching-Gummi. Seine Rolle bei der Vergabe der Fußball-WM 2006 nach Deutschland harrt nach wie vor der Aufklärung. RLD“ war der Schillernste Star im fränkischen Herzogenaurach seit der Gründung der „Gebrüder Dassler Schuhfabrik“ 1924.
Die Begeisterung bei Mitarbeitern und Aktionären über den neuen Adidas-Chef hielt sich also zunächst in Grenzen. Als Hainer 15 Jahre und sieben Monate später, im Oktober 2016, zu seinem Abschiedsspiel ins Adi-Dassler-Stadion zu Herzogenaurach einläuft, ist er derjenige deutsche Manager, der sich am längsten auf dem Chefposten eines Dax-Konzerns gehalten hat. Die Seinen feiern ihn wie einen Star. Der drahtige Oberkörper steckt in einem schwarzen Leibchen mit Rückennummer 10, auf der Brust prangt „Danke Adidas“ – die gegnerische Elf läuft mit „Danke Herbert“ auf.
Wegen einer gebrochenen Schulter einen Arm in einer Schlinge wie einst „Kaiser“ Franz im „Jahrhundertspiel“ gegen Italien bei der WM 1970 (3:4 n. V.), verwandelt Hainer gegen Ende des Spiels routiniert einen Elfmeter, mit rechts in die rechte untere Ecke. Endstand: 4:2 für Herberts Elf.
Ungleich wichtiger sind die Zahlen seiner persönlichen Adidas-Bilanz: Den Umsatz hat er von 6,1 Milliarden Euro anno 2000 auf 19,3 Milliarden mehr als verdreifacht, den Börsenwert von 3 Milliarden Euro auf 35,7 Milliarden fast verzwölffacht. Der Gewinn in seinem letzten Geschäftsjahr betrug eine Milliarde Euro – fünfmal so viel wie 2001.
Zwar hat Hainer sein wichtigstes und ambitioniertestes Ziel nicht erreicht: Weltmarktführer Nike einzuholen. Aber er hat aus den drei Streifen eine weltweit begehrte, kräftig wachsende Konsumgütermarke gemacht und so gezeigt, dass das Land der Autos und Maschinen auch etwas vom Lifestyle der Jungen und Junggebliebenen von New York bis Peking versteht.
Herbert Hainer hat bewiesen: Die Deutschland AG kann auch cool.
Erste Erfahrungen im Umgang mit Geld und Kunden macht der kleine Herbert in der Metzgerei seines Vaters im niederbayerischen Dornwang bei Dingolfing, wo er schon als Junge gern hinter der Kasse steht. In der Freizeit wird gekickt — Ehrensache für einen, der am 3. Juli 1954 geboren wird, einen Tag vor dem „Wunder von Bern“, dem ersten WM-Titel der deutschen Fußballnationalmannschaft und zugleich dem Durchbruch für die Marke Adidas. Den legendären Schraubstollenschuhen sei Dank.
Der Linksaußen bringt es immerhin bis in die dritte Liga. Aber das Unternehmerische liegt ihm noch mehr. Als Student übernimmt er mit einem Freund eine Kneipe in Dingolfing, den „Gußofen“, und rüstet sie auf englischen Pub um — damals ein Trend, den Hainer früh erkennt. Schnell stehen die Gäste Schlange. Nach nur einem Jahr verkauft der Junggastronom das Geschäft mit Gewinn.
Nach dem BWL-Studium heuert Hainer beim globalen Klassenbesten Procter & Gamble an, wo er lernt, Babywindeln zu vermarkten. Als er sich 1986 bei Adidas bewirbt, ist er zunächst empört, wie chaotisch es dort zugeht, und will absagen. Aber Neugier und Sportbegeisterung überwiegen. Hainer beginnt als Vertriebsdirektor für Taschen, Schläger und Bälle.
Nur 14 Tage nach Hainers Dienstantritt stirbt Konzernchef Horst Dassler, der Sohn von Gründer Adi Dassler. Der Sportkonzern trudelt ins Abseits, aus dem ihn erst Louis-Dreyfus mit seinem Einstieg 1993 befreit. Vier Jahre darauf zieht Hainer in den Vorstand ein.
Als er seinen Förderer 2001 beerbt, muss er erst mal aufräumen. Der Franzose konnte Adidas zwar wiederaufrichten, aber zu vieles hat sich verselbstständigt. Hainer stärkt die Zentrale, kauft regionale Distributoren auf, vereinheitlicht die Markenführung und konzentriert die Werbemillionen stärker auf Topstars und Topvereine.
Er stürmt beherzt nach China und Russland: In beiden Märkten erzielt Adidas Iange Jahre Supermargen, in China bis heute. Mit dem Kauf von 10 Prozent an der FC Bayern München AG 2002 macht Hainer den Sportartikler zudem zum Aktionär eines seiner wichtigsten Aushängeschilder.
Hainer ist Sportfan durch und durch. Mit Langlauf und Golf hält er sich in Form, er begeistert sich für Tennis, Leichtathletik oder Basketball. Sein Freund, der Weltklassegolfer Sergio Garcia (37), sagt, Hainer könne die olympischen Medaillengewinner der 60er Jahre aus Deutschland auswendig runterbeten.
Als Sportler weiß Hainer allerdings auch: Man kann nicht immer gewinnen.
Gleich zum Amtsantritt 2001 kündigt er an, in den USA endlich zuzulegen. Dort wird fast jeder zweite Sportschuh weltweit verkauft, dort werden die wichtigsten Trends geboren. Mit 12 Prozent Marktanteil liegt Adidas um Längen hinter dem Erzrivalen Nike zurück.
2005 holt Hainer zum großen Schlag aus. Erst verkauft er die französische Skimarke Salomon, die Louis-Dreyfus 1997 übernommen hatte, die aber nie recht zu Adidas passen wollte und Verluste einfuhr. Drei Monate später folgt der vermeintlich ganz große Coup: Für 3,1 Milliarden Euro erwirbt Hainer die US-Marke Reebok. Die hatte in den 80ern mit modischen Sneakers Amerika erobert, Adidas hatte diesen Trend verschlafen. Zusammen rücken die beiden Marken beim Umsatz nun nahe an den Primus Nike heran – die Wachablösung an der Spitze der Sportartikelindustrie scheint nahe.
Dass er sich im Jahr zuvor, aus einer Laune heraus, den Schnäuzer abrasiert hat, passt zum neuen Selbstbewusstsein.
Tatsächlich erweist sich Reebok bald als Fehlgriff. Hainer und seine Mannschaft wissen nicht, wie sie die Marke neben Adidas ausrichten sollen, immer wieder versuchen sich neue Manager mit immer neuen Ideen — ohne nachhaltigen Erfolg. Lange Jahre gleichen die ordentlichen Zuwächse bei Adidas die Defizite bei Reebok mehr als aus — bis Hainers Erfolgsserie 2014 reißt. Und sich seine wahre Statur zeigt.
Mit zwei Gewinnwarnungen hat Adidas die Aktionäre kalt erwischt. Der Börsenwert von Adidas schrumpft um mehr als ein Drittel. Hainer bekommt die Quittung für eine Mischung aus eigenen Fehlern, einer Dosis Behäbigkeit nach all den Erfolgen, Wildwuchs in den Vertriebskanälen und schwer vorhersehbaren Ereignissen wie dem Einbruch in Russland, dem mauen Golfgeschäft und heftigen Wechselkursschwankungen. Hainers Nimbus scheint passé: Einige Investoren fordern gar seine Auswechselung als CEO.
„Wer ihn in schwierigen Zeiten infrage stellt“, sagt sein Freund Sergio Garcia, „der kennt Herbert Hainer nicht.“
Seine Reaktion hatte drei Phasen, sagt Hainer heute: Erst habe er die Kritik gar nicht verstanden. Dann sei er regelrecht sauer geworden ob der vermeintlichen Undankbarkeit für die vielen Erfolge unter seiner Führung. Eine gewisse Dünnhäutigkeit hat er auch nach anderthalb Jahrzehnten im Chefsessel nicht vollends abstreifen können. „Und dann habe ich mir gesagt: Nein, so trete ich nicht ab!“ Und, bayerisch handfest: „Euch Deppen werde ich es noch mal zeigen!“ Hainer geht in sich und ärgert sich über manches eigene Versäumnis. Wie hatte er nur zulassen können, dass die größte Fußballfabrik der Welt zur WM 2014 in Brasilien ohne echte Neuerung bei Kickstiefeln anreiste? „So was geht natürlich nicht.“
Und dann fängt er noch einmal ganz von vorn an. „Wir haben praktisch ein weißes Blatt Papier vor uns hingelegt und die Mitarbeiter zu unseren neuen Ideen befragt.“ Damit erfindet Hainer die Führungskultur in seinem Konzern — und damit auch sich selbst — neu. Bis dahin hat bei Adidas das „Top-down“-Prinzip vorgeherrscht.
Der Chef erfährt so manch frustrierende Tatsache aus seinem Sportreich: Etwa dass eine Marketingidee, die Herzogenaurach aus Japan erreicht, sechs Wochen geprüft wird, mit bürokratischen Änderungsaufträgen zurückgeht (Schriftgröße ändern!) und so weitere sechs Wochen verstreichen. Ein Armutszeugnis in einer Branche mit immer schnelleren Trendwechseln.
Und schließlich zehrt auch die größte strategische Wunde an Adidas: die Schwäche in den USA. Dort kann sogar der Newcomer Under Armour Adidas überholen, und Nike zieht immer weiter davon. Bei Turnschuhen hat der ewige Rivale aus Portland 60 Prozent Marktanteil, zwölfmal mehr als Adidas. Der neue Strategieplan, den Hainer im März 2015 vorstellt, kontert mit einer massiven Marketingoffensive in den USA.
Inzwischen darf sich Hainer Quartal für Quartal über das Erbe freuen, das er seinem Nachfolger, Ex-Henkel-Chef Kasper Rorsted, hinterlassen hat. Die neue Strategie ist ein voller Erfolg: Der Umsatz sprang zuletzt um 18 Prozent in die Höhe, der Gewinn um 60 Prozent. Selbst Reebok, neu aufgestellt als Fitnessmarke, wächst, wenn auch langsamer als Adidas.
Und in den USA sind die drei Streifen so heiß, dass der „Superstar“ von Adidas zum umsatzstärksten Turnschuh aufstieg. Nike blieben nur die Plätze zwei bis zehn.
Cool – oder?
An einem lauen Frühlingstag sechs Monate nach seinem Abschied schlendert der Rentner Herbert Hainer durch die Adidas-Zentrale, V-Pulli, Jeans im Used-Look, dazu schneeweiße Adidas-Sneaker, wie sie die Kids weltweit tragen. Morgens war Hainer golfen, um 18 Uhr warten alte Freunde zur Schafkopfrunde.
„Ich hatte ja genug Zeit, um mich vorzubereiten, und ich habe meine neue Balance schnell gefunden“, sagt er. Die Öffentlichkeit, die Privilegien, das vermisse er alles nicht. Den Wagen fährt er selbst durch die Waschstraße. Kürzlich half er gemeinsam mit seiner Frau der Tochter, ihren Pferdehof in Österreich auf Vordermann zu bringen, was körperlich mal wieder richtig anstrengend war. Hainer hat es genossen. Und in der Nacht zuvor hat er im TV stundenlang verfolgt, wie sein Freund Sergio das Masters in Augusta gewann.
Jetzt hat er Lust, seine Erfahrungen auch anderweitig einzubringen. Daheim in der Küche hängen zwei Kalender, einer für seine Frau und einer für ihn, zwecks Terminabgleich. Das erfordert die zweite Karriere als Multiaufseher: Bei der Lufthansa und beim FC Bayern sitzt Hainer im Aufsichtsrat, seit Mai nun auch bei der Allianz SE. Der Unternehmensberater Accenture hat ihn in den Board geholt. Bei Sportradar, einer Schweizer Firma, die mit Sportdaten handelt, engagiert er sich ebenfalls.
Wenn Adidas-Aufsichtsratschef Igor Landau in zwei Jahren abtritt, könnte Hainer ein Comeback in Herzogenaurach feiern, glauben viele. Muss er aber nicht. Er hat ja bewiesen, dass er’s kann.