Washington. Die Hauptstadt Amerikas ist ein Paradies für Fahrradfahrer. Im Viertel hinter dem Kapitol säumen breite Radstreifen die Straßen, die Autofahrer gewähren Vorfahrt auch dort, wo sie dem Radler nicht zusteht. Umso irritierter war ich, als mir jüngst einer der übermotorisierten SUVs den Weg abschnitt, mit denen in Washington so ziemlich jeder unterwegs ist, der nicht Fahrrad fährt. Surrend öffnete sich das Beifahrerfenster, ein Schwall kalter Luft strömte hinaus, und dann hörte ich eine freundliche Frauenstimme aus dem Inneren rufen: „Lidl ist schon da?! Wo denn?“
Ich hatte meine Einkäufe in einer – aus Deutschland importierten — Kühltüte des Discounters auf dem Gepäckträger verstaut. Die Amerikanerin hatte das Logo erkannt, nun fürchtete sie, etwas verpasst zu haben. Denn tatsächlich wagt Lidl knapp 160 Jahre nach Gründung den Sprung über den Atlantik. Das Unternehmen aus Neckarsulm will den Markt der 320 Millionen Verbraucher aufrollen. Ein aberwitziges Unterfangen. Der Wettbewerb im US-Einzelhandel ist erbittert. Und wenn es etwas reichlich gibt, dann Läden, die aussehen, als habe der Lkw-Fahrer seine Ware von der Laderampe in den Verkaufsraum gekippt. Der Wohlfühlfaktor bei Walmart entspricht der Temperatur im Verkaufsraum. Eisig. Shopping im Mutterland des Konsums ist kein Vergnügen, sondern Hamsterarbeit. Die Grundregel lautet: Kaufe nie, was du brauchst, wenn du es brauchst. Stattdessen gilt es, Sonntag für Sonntag das fette Anzeigenpaket zu flöhen, das der „Washington Post“ beiliegt. „265 Dollar Rabatte“ werden auf der Titelseite versprochen. Im Kleingedruckten sind das ein paar Dollar für Waschpulver, rabattierte Campingstühle, Amerikafähnchen im Dutzend billiger. Wer sich die Mühe macht, kann an allem sparen. Sehr viele Amerikaner machen sich die Mühe.
Wo der Preis entscheidet, war Amazons Beutezug durch den Einzelhandel nur logisch. Der Onlinehändler hat die Schwächen der Branche brutal enthüllt. „Amerikas Läden sind zu groß, langweilig und teuer“, schrieb der Bloomberg-Kolumnist Barry Ritholtz. In den Malls hat längst das große Sterben eingesetzt. Ritholtz sieht eine Marktlücke nur noch dort, wo der Konsumgenuss beginnt. Die Kunden wollten heute nicht einfach „Dinge“, sondern Einkaufserlebnisse. Auch in Amerika.
Aber Lidl verspricht keine Freude, sondern niedrige Preise und tritt damit gegen Walmart, Aldi & Co in einer Klasse an. Man sollte meinen, das kann eigentlich nur schiefgehen.
Die Dame aus dem SUV kann es dennoch kaum erwarten. „Ich kenne Lidl aus Deutschland“, erzählte sie mir, bevor sie weiterfuhr: „Die sind gut.“ Dass Lidl die nächstgelegene Filiale von Washington aus in Virginia eröffnet, dürfte sie nicht stören. Benzin ist in Amerika billig.