Caracas. Maschinen dröhnen, man versteht kein Wort. Sie fasst sich auf den Kopf- das Haarnetz. Ihr Unmut gilt dem Herrn, dessen silbrige Locken so vorwitzig unter dem Netz herausgucken. Das geht gar nicht. In diesem Labor vor den Toren Zürichs produzieren sie ein hochsensibles Gut, eines, das den Ruhm der Schweiz begründet — so wie die Berge, Uhren und Banken: Schweizer Schokolade. Und ein Haar können sie da gar nicht gebrauchen. Egal von wem.
Dieter Meier gehorcht, auch wenn er hier das Sagen hat. Er hat beim Schokoladenhersteller Halba ein paar Räume gemietet und will keinen Ärger. Und weil er ein Spaßvogel ist, stülpt er über seinen Schnäuzer gleich auch noch ein Netz. Die Frau nickt, sie hat keine Ahnung, wen sie da gerade zurechtgewiesen hat.
Meier ist eine lebende Legende, ein Schweizer Weltstar: Mit der Zwei-Mann-Band Yello haben er und sein Kumpel Boris Blank in der 70erund 80er-Jahren quasi den Elektropop erfunden, zwölf Millionen Platten und CDs verkauft. Er machte Kunst und investierte sein Vermögen — sein Vater war ein bekannter Bankier — in Unternehmen auf der ganzen Welt. Jetzt ist Meier 72 Jahre alt und hat immer noch nicht genug — er baut eine Schokoladenfabrik in der Schweiz. Keine kleine Manufaktur, nein, eine, die in die industrielle Massenfertigung geht. Er plant mit 120 bis 130 Millionen Tafeln pro Jahr. Denn Meier glaubt sich im Besitz der ultimativen Schokoladenformel, einer, die die „Chocolate World aus den Fugen hebt“, sagt Meier.
Klingt nach Größenwahn. Oder nach Dieter Meier. Alle Welt weiß doch, dass die Schweizer Meister im Schokolademachen sind. Seit 200 Jahren rösten und rühren sie aus Kakaobohnen süße Köstlichkeiten, und die Welt reißt ihnen das Zeug quasi aus der Hand. Lindt & Sprüngli, Nestlé, Mondelez sind Weltkonzerne mit Sitz in der Schweiz, sie haben Hunderte Ingenieure, die an neuen Rezepturen forschen und alte verfeinern. Mit dieser Schokomacht will Meier es also aufnehmen und mit einer ganz neuen Methode eine ganz neue Schokolade herstellen, eine Art Molekular-Schoki.
Zumindest der Ort, von dem die süße Revolution ausgehen soll, sieht schon sehr molekular aus. Das Gewerbegebiet von Wallisellen nahe dem Züricher Flughafen ist so grau und eintönig wie überall auf der Welt. Links vorbei am „Schoggihüsli“, wo Halba Schokolade zu Sonderpreisen verkauft, durch eine Stahltür geht es rein. Kein Schild, keine Klingel weist auf Meiers Firma Orode Cacao hin. „Was wir hier machen, ist ein völlig anderes Produkt mit einer hundertmal größeren Aromatik“, sagt er. Normale Schokolade habe ja fast keinen Kakaogeschmack mehr, nur noch Zucker, Vanillin, künstliche Aromen: „Aus Verzweiflung hauen die da jetzt Chili rein, es gibt keine wirkliche Innovation mehr.“
Reine Kakaomoleküle
Meier ist ein Abenteurer. Einer, der Nussplantagen in Patagonien anlegt, wo eigentlich nichts wächst – bis einer kommt wie er und eine Solaranlage hochzieht, die hilft, 12 000 Hektar Land zu bewässern. Er züchtet Rinder, hat Weinberge, Kaffeeplantagen, eine Restaurantkette und Beteiligungen an allerlei Firmen. „Ich bekomme absolute Glücksgefühle, wenn ich sehe, wie aus einer Idee etwas entsteht, und wenn ich mit kundigen Leuten arbeiten kann, von denen ich lerne“, sagt er. „Das macht mir einfach mehr Spaß, als auf einer 30-Meter-Segelyacht vor Kroatien um die Inseln zu segeln.“
Vor sich auf dem Bürotisch hat er eine Kiste mit Döschen, Fläschchen, in Goldfolie eingeschlagene Minitafeln, versehen mit Etiketten. Behutsam öffnet er ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit, schnuppert, „riecht ein bisschen wie Essig“, und reicht es rüber. Das sei ein molekulares Konzentrat, „reine Kakaomoleküle, wir nennen es unser Gold“, erklärt er ehrfürchtig. „Später“, sagt er, „probieren wir auch Schokolade.“ Zuerst will er aber in die Produktion.
Meier stößt die schwere Tür zum Geheimlabor auf. Der Raum ist Enttäuschung und Offenbarung zugleich. Nichts duftet, blubbert oder brodelt. Kein sämiger Kakaobrei, in dem ein rotwangiger Maitre Chocolatier rührt und in den man den Finger tauchen könnte. Stattdessen Edelstahltöpfe, Messgeräte, ein Kreuz und Quer blauer Schläuche. Hier könnte auch Öl durchfließen.
Der Maitre, der Franco Spescha heißt und den seine Karte als Leiter Produktion und Technik ausweist, erklärt, dass die Schokoherstellung gerade ruht. Ein Filter müsse verbessert werden. In ein paar Tagen schnaufen und schwitzen die Maschinen wieder, denn bei Meiers Schokoproduktion geht es feucht und warm zu. Sie arbeiten mit Wasser, einem Element, das die konventionelle Schokoindustrie um jeden Preis meidet. Denn die Feuchtigkeit könnte das Produkt verunreinigen.
Dieter Meier springt zwischen den Maschinen hin und her. „Die einzelnen Maschinen kommen aus den unterschiedlichsten industriellen Bereichen, keine aus der Schokoladenindustrie“, sagt er. Dieser Dekanter etwa, der werde in Kläranlagen verwendet, weil sie in Kläranlagen auch darauf angewiesen sind, dass bei der Behandlung des schmutzigen Wassers keine bakteriologischen Probleme entstehen. Die nächste Maschine ist ein Apparat zum Trocknen und stammt aus einer Nudelfabrik.
Ab und an macht Meier Faxen zwischen all seinen Gerätschaften, it’s always showtime. Am Ende stimmt es doch, was über ihn erzählt wird: Er habe seine Posen nummeriert. Meier sagt, die schwierigste sei die gespielte Natürlichkeit. Er ist ein kurzweiliger Unterhalter, egal ob es um Musik, Kunst, Schokolade oder Landwirtschaft geht.
Professor-Schokolade
Drei bis vier Monate im Jahr lebt er in Argentinien auf einer Hazienda. Dort baut er alles Mögliche an, vor allem aber Nüsse. Eine Nussbaumplantage, die sei so rentabel wie eine neue Software im Silicon Valley, eine „Lizenz zum Gelddrucken“, wenn man es richtig anstellt. Meier gerät ins Erzählen, er steckt so voller Ideen und Geschichten, dass es für ein Dutzend Leben reichen würde.
Früh investierte er in Unternehmen, zum Beispiel in die Schweizer Uhrenmanufaktur Ulysse Nardin, mit deren Verkauf er Millionen verdiente, in Beteiligungen an Orell Füssli, das die Schweizer Banknoten druckt, oder an dem Zermatter Verkehrsunternehmen BVZ. Doch Meier stolperte auch. Mit der Firma Euphonix hatte er Anfang der 90er-Jahre im Silicon Valley die ersten volldigitalen Mischpulte entwickelt. Zwar schafften sie es in die Hollywoodstudios, nicht aber ins Wohnzimmer der Musikhörer. Meier verlor eine Menge Geld, gehört aber immer noch zu den reichsten Menschen der Schweiz.
Zur Schokolade kam Meier wie so oft in seinem Leben: „Ich ging nicht zur Schokolade, die Schokolade kam zu mir.“ Vor ein paar Jahren bekam er einen Anruf von Tilo Hühn, einem Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Hühn hatte gelesen, dass Meier eine kleine Kaffeeplantage in der Dominikanischen Republik bewirtschaftet, wo er nur die reifen Früchte erntet, um das Kaffeearoma zu steigern. Vielleicht würde ihn interessieren, was alles in der Kakaobohne steckt.
DIE METHODE DER AZTEKEN
Meier war Hühns letzte Chance. Denn Hühn hatte bereits die gesamte Branche abgeklappert. Niemand wollte das Verfahren kaufen und industriell ausprobieren. Die Wassermethode schreckte alle ab. „Die hatten eigentlich schon aufgegeben, das noch irgendwo zu platzieren und zu produzieren“, sagt Meier.
Auf die Idee, Schokolade ganz anders herzustellen, war Hühn in Venezuela gekommen. Dort hatte er gesehen, wie in der Schokoladenproduktion das gesamte Kakaoaroma verloren geht. Das war der Impuls zu gucken, ob es nicht besser geht. Herausgekommen ist nach fünf Jahren ein Verfahren zur Kaltextraktion der Kakaobohne. Und das geht so: Zuerst wird die Kakaobohne im Rohzustand zu Staub zermahlen. Dann kommen zwei Drittel Wasser dazu, und dann geht diese Masse durch einen elfspurigen Schleuder- und Filtrierprozess. Zum Schluss ist die Bohne in ihre vier Bestandteile zerlegt, die Kakaobutter, das Kakaopulver, die ganzen Bitterstoffe, die Polyphenole, und die reinen Aromamoleküle als viertes Element, das Gold. „Alles hocharomatisch, sodass Sie die Destination bestimmen können, wo die Bohne herkommt, wie beim Wein“, sagt Hühn. Nach der Zerlegung könne man dann anfangen, die Bestandteile neu zusammenzusetzen und eine Schokolade nach Lust und Laune zu schöpfen. Eben ein bisschen wie in der Molekularküche, nur ohne den Zusatz weiterer Aromen.
Schon die Azteken hätten Kakaobohnen in großen Mörsern tagelang zermahlen und mit Wasser verrührt. Dieser Prozess führte zu einem wunderbaren Aroma. Bei wichtigen Zeremonien wie für den Gott des Kakaos Ek Chuah wurden diese Getränke an die Priester gereicht.
Meier traf sich mit Hühn, der Mann erzählte von seiner Idee. „Ein unglaublich humorvoller, pfiffiger Kerl, dem zuzuhören ist ein reines Vergnügen.“ Ohne es zu wissen, hatte Hühn die wichtigste Hürde genommen. Meier investiert nur, wenn er sich auf die Leute freut, mit denen er zusammenarbeitet. Beim zweiten Treffen lag ein Stück Schokolade auf dem Tisch, „ich habe geschmeckt und war absolut begeistert“. Meier lässt sich überzeugen, dass die Sache für die Massenfertigung taugt.
Er akkreditiert sich auf dem weltgrößten Schokoladenkongress in Davos. „Ich habe ein Flugblatt verteilt wie zu Zeiten als linker Student, und da stand oben drauf: ,The Chocolate Revolution“‚, erzählt Meier und freut sich noch immer wie ein Kind. Doch alle winkten ab. „Die Profis dachten alle, ich sei irgendein Spinner.“ Ein einziger Mann zeigt Interesse, wenn das Verfahren mal industriell erprobt sei, solle er wieder anrufen. Es ist Andreas Jacobs, damals Chef des größten Schokoladenproduzenten der Welt Barry Callebaut.
Meier greift in einen Bottich mit Nibs, zerhackten Kakaobohnen. Die kommen nun in eine Kugelmühle, werden zu Staub zermahlen und mit Wasser gemischt. „Beim normalen Prozess“, erklärt Meier, „wird die Bohne erst bei rund 130 Grad geröstet, da entstehen die typischen Kakaoaromen, aber die Hitze zerstört auch die ursprünglichen Aromen, die in der grünen Kakaobohne sind. Dann wird die Bohne conchiert, das ist noch mal ein Hitzeprozess. Der dauert Dutzende von Stunden, und dabei verliert sie eigentlich fast allen Geschmack. Was rauskommt, ist eine Schokoladenmasse, die sehr fein und raffiniert ist, aber die Kakaobutter, die da drinsteckt, ist völlig geschmacklos, und das Kakaopulver hat auch sehr, sehr wenig Geschmack.“
Eine Kostprobe
Mit dem neuen Verfahren kann Oro de Cacao 80/90-Prozent-Schokolade ohne Bitterkeit herstellen, die ohne Extrazucker auskommt, weil sie den Fruchtzucker der Kakaofrucht nutzt. Außerdem produzieren sie Milchschokolade, die ohne Vanillin zu ihrem Geschmack kommt. In sieben Jahren, scherzt Meier, würden sich nur noch Masochisten mit der Bitterkeit üblicher Schokolade herumquälen.
Genug gefachsimpelt. Meier bittet zum Tasting: Er stellt ein paar Töpfchen hin, packt ein paar Tafeln aus. Hühn könne bis zu 30 Kakaobohnen rausschmecken. Mit „Vanuatu“ geht es los. Andächtig schweigen alle, lassen die Schokolade langsam auf der Zunge schmelzen. Meier spricht als Erster: „Sehr erdig und sehr tief, ein bisschen nach Tabak.“ Das trifft’s. Als Nächstes „Grenada“. „Blumig, fröhlich und leicht.“ Meier nickt. Jetzt „Kuba“, liegt irgendwo zwischendrin. Meier erzählt, dass er in vier bis fünf Städten der Welt einen „Salon de Cacao“ eröffnen wolle, da können die Leute dann degustieren, Trinkschokoladen, Pralinen, Kugeln mit halbflüssiger Schokolade, das solle eine „Chocolate Library“ werden, wo es 40 verschiedene Destinationen zur Auswahl gibt. Dort will er auch die Kakaofrucht ausstellen, alle sollen sehen und riechen.
Plötzlich stehen ein paar Männer in der Tür. Meier winkt kurz goodbye. Geschäftsleute aus den USA, er hat sie heute früh durch das Labor geführt und probieren lassen. Es sind Männer von Barry Callebaut. Sie sind jetzt öfter da.