Bonn. Das Herz der deutschen Automobilindustrie, es schlägt dank Mercedes und Porsche in Baden-Württemberg. Deutlich mehr als 200 000 der rund 900 000 Beschäftigten dieser Branche arbeiten dort, gut 25 000 allein bei Bosch in der Verbrennungstechnik. Rund um Zuffenhausen und Untertürkheim ist ein in Quantität und Qualität beeindruckendes Zulieferernetzwerk entstanden.
Geht es aber um die Zukunft des Autos, verliert das Ländle plötzlich an Glanz. Porsche sucht den Anschluss mit seinem neuen „Innovation Office“ eben nicht dort, sondern in Tel Aviv. Und wo hat Daimler seine wichtigsten Innovationszentren? Im Silicon Valley und in Bangalore. ZF kooperiert mit dem kalifornischen Grafikchipspezialisten Nvidia, um dem Auto das Sehen und Denken beizubringen. Bosch arbeitet mit dem aus Bristol stammenden Start-up Ultra Haptics an der Gestenerkennung. Die Sogwirkung globaler Hubs und Valleys ist absolut nachvollziehbar. Doch das einst hochgelobte Potenzial der Heimatstandorte bleibt ungenutzt. Und das ist typisch für die Innovations- und Transformationskultur in Deutschland. Als wir vor etlichen Jahren die digitale industrielle Revolution in die Marke „Industrie 4.0″ gossen, entstanden quasi über Nacht Initiativen, Arbeitskreise und Kooperationen in Wirtschaft und Forschung. Die große Transformation indes, die über solch lobenswerte Inkubatorenansätze und prinzipielles Wohlwollen hinausgeht, lässt auf sich warten.
So ist Industrie 4.0 heute ein Marketingslogan mit abnehmender Relevanz, während der konkrete Bedarf doch immer größer, die globale Konkurrenz immer schärfer wird. Blättert man durch die Projektliste der „Plattform Industrie 4.0″, so stößt man immer wieder auf ein grundlegendes Missverständnis digitaler Transformation: Industrie 4.0 wird als reines Update für effizientere Prozesse und verringerte Risiken gesehen. Das springt viel zu kurz und erklärt, warum sich die Nutzung von Google, Facebook und Co. mittlerweile auf einen digitalen Wertschöpfungsexport von rund 30 Milliarden Euro pro Jahr addiert.
Ein bisschen mehr US-Denke würde uns da guttun: entwickeln, bauen, verbessern – prototype, prototype, prototype. Das aber setzt ein für Deutsche atypisches Verhalten voraus: Für „gut genug“ befundene Konzepte unter Echtbedingungen reifen zu lassen und zu verbessern.
Solange aber dieser Kulturwandel nicht eingeleitet wird, heißen wir die feinauflösende Sensorik der „Industrie 4.0″ als Werkzeug willkommen, mit dem sich das geilste vorstellbare Spaltmaß realisieren lässt. So liest sich die Plattform Industrie 4.0 als eine Liste abgeschlossener Updates. Baden-Württembergs Traditionsindustrien begeben sich auf globale Mentalitätsflucht.
Wir Musterschüler der Industrialisierung stehen heute vor unseren Industrieparks und verstehen überhaupt nicht, dass wir sie endlich als Experimentierräume nutzen müssen. Die von meinem Kolumnistenkollegen Sattelberger an dieser Stelle kürzlich geforderten „Freiheitszonen für die Digitalisierung“ liegen schlüsselfertig vor unseren Städten. Wir müssen sie nur auch anwenden und bespielen.
Die gewohnten Cluster nach traditionellem deutschen Industrialisierungsschema haben jedenfalls ausgedient. Das wird schwerwiegende Folgen für Unternehmen und Beschäftigte, für Steuereinnahmen und Sozialversicherungssysteme nach sich ziehen. Es ist höchste Zeit, sich zu bewegen.