Köln. Als Souque zehn Minuten nach Anpfiff endlich dem Spiel folgen konnte, fehlte ihm allerdings die rechte Konzentration auf das Match. Caparros hatte ihm mitgeteilt, dass er — anders als bis dahin geplant und kommuniziert – nicht bis Ende 2018 Rewe-Chef bleiben, sondern schon Ende Juni 2017 aufhören werde. Souque, der vom Aufsichtsrat designierte Nachfolger, würde also vorzeitig nachrücken.
Die Bilanz des Nachmittags: Der FC unterlag Bayern 0:3, und Souque wird zum 1. Juli Chef des zweitgrößten deutschen Lebensmittelhändlers, der mit 15 000 Läden in Europa 54 Milliarden Euro umsetzt.
Caparros übergibt ihm die genossenschaftliche Gruppe, die von 4000 selbstständigen Rewe-Kaufleuten getragen wird, in gutem Zustand: 2016 erzielte der Konzern ein Rekordergebnis; die lange verlustreiche Discounttochter Penny ist saniert; und der Kampf mit Marktführer Edeka um die Übernahme der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann ging mit einem schönen Teilsieg für Rewe zu Ende.
Das alles klingt nach einer komfortablen Startposition für den Neuen — und ist es doch nicht. Denn Edeka zieht immer weiter davon. Zudem macht sich ein neuer Feind bereit zur Attacke: Amazon will dem stationären Lebensmittelhandel Umsatz wegnehmen.
Lionel Souque wird mehr als nur ein paar Details ändern müssen, wenn er Rewe in Form halten will. Was also qualifiziert den Mann für den Topjob? Was haben Mitarbeiter, Konkurrenten, Lieferanten und Kunden von ihm zu erwarten?
Keiner jedenfalls kennt die Firma besser als er. Souque ist Rewianer durch und durch, und das seit 21 Jahren. Abgesehen von kurzen Intermezzi vor und während des Studiums arbeitete er stets nur dort.
Wie Caparros ist er gebürtiger Franzose mit Wurzeln in den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien. Seine Eltern lebten in Tunesien, wo der Vater als Französischlehrer arbeitete. Zu Lionels Geburt im Sommer 1971 flog die Mutter nach Paris, zwei Jahre später siedelte die Familie in die französische Hauptstadt über.
Anstelle der Wehrpflicht absolvierte Souque einen sogenannten Unternehmensdienst — bei der deutschen Tochter der französischen Haustechnikfirma Somfy, nahe Tübingen. Dann studierte er Betriebswirtschaft an der Hochschule Reutlingen, wo er seine spätere Ehefrau Laure kennenlernte. Die Diplomarbeit schrieb er über Eigenmarken im Handel, was erstmals sein Interesse auf Rewe lenkte. An der Elitehochschule Essec in Paris machte er den MBA. Ein Praxissemester leistete er beim französischen Hypermarktbetreiber Auchan in Houston/Texas ab. Noch bevor er seinen ersten Job bei der Consultingfirma Roland Berger antreten konnte, erreichte ihn ein Angebot der Kölner Rewe-Gruppe. Der damalige Konzernchef Hans Reischl wollte ein Dutzend junge Leute verschiedener Nationalitäten als Trainees einstellen, um die Auslandsexpansion besser managen zu können.
Ein Schnösel aus der Zentrale Die Lehrzeit bei Rewe hätte kaum härter sein können. Von den zwölf Trainees blieb binnen Kurzem allein Souque übrig. Nach einem halben Jahr in der Kölner Hauptverwaltung wurde er zu Penny nach Bayern geschickt. Dem dortigen Vertriebsleiter passte es überhaupt nicht, sich mit einem jungen Schnösel aus der Zentrale abgeben zu müssen, der noch dazu Franzose war und zu allem Überfluss Akademiker.
Er schickte ihn in eine Filiale im Münchener Problemviertel Hasenbergl. An seinem ersten Tag fand Souque weder einen Filialleiter noch sonstiges Personal vor. Er musste nicht nur kassieren, sondern zwischendurch auch Lkw-Ladungen annehmen. Samstags bekam er Sonderaufträge — etwa, den Keller des Ladens aufzuräumen. Oft genug fiel deshalb der Wochenendbesuch bei der Freundin in Paris aus.
Doch der ehrgeizige Souque hielt durch. Er ahnte, dass der Chef seine Belastbarkeit testen wollte. „Ich werde nicht dafür bezahlt, dass die Leute mich sympathisch finden“, hatte er den jungen Mann beschieden. Der Umgangston im Handel ist oft rau — das lernte Souque schnell.
Seine Leidensfähigkeit zahlte sich aus. Er wurde in die Rewe-Auslandsorganisation geholt und rasch mit Verantwortung betraut. Seine Freundin arbeitete inzwischen bei J. P. Morgan in London und verdien te mehr als Souque. Im Jahr 2000 heirateten die beiden.
Souque ging als Troubleshooter nach Italien und holte beim Gehalt auf. Seine Frau konnte für J. P Morgan nach Mailand wechseln. Mit 35 Jahren kam er in den Vorstand der in Wien ansässigen Rewe International, die elf Länder betreute. Bald war er deren Chef.
Rewe wollte damals mithilfe des Handelsmagnaten Georgij Trefilow in Russland expandieren. Doch der geriet in Zahlungsnot, versuchte den Handelskonzern mit gefälschten Verträgen zu Millionenzahlungen zu zwingen und setzte Souque massiv unter Druck. Dessen in Wien lebender Familie bot Rewe Leibwächter an, was er aber ablehnte.
Auf seinen Moskau-Reisen begleitete Souque stets die Angst vor der Mafia. Eines Abends im Hotel stellte er einen Stuhl unter die Türklinke und ließ das Licht an. Nach einer schlaflosen Nacht stand er um fünf Uhr in der Lobby. Frühstück gab’s erst ab sechs Uhr. Am Ende wurde Trefilow insolvent, Rewe gewann alle Prozesse gegen ihn.
2009 machte der nach einigen Führungswirren zum Chef ausgerufene Caparros ihn zum Generalbevollmächtigten, 2011 kam er in den Vorstand, mit der Zuständigkeit für das deutsche Rewe-Netz. Ein gefährliches Spannungsfeld: Einerseits sind die selbstständigen Einzelhändler Kunden der regionalen Rewe-Großhandlungen und fordern beste Einkaufspreise und Dienstleistungen der Zentrale, um ihren Gewinn zu maximieren — andererseits sitzen ihre Vertreter im Aufsichtsrat und kontrollieren den Vorstand.
Der junge Mann erwarb sich rasch Sympathie unter den Genossen. Er steuert über Zahlen, ohne Controller zu sein. Er kommuniziert bestimmt, aber freundlich — und nicht zuletzt in besserem Deutsch als Caparros. „Zu seinen Kerntugenden gehört sein guter, ehrlicher Umgang mit den Kaufleuten“, sagt Josef Sanktjohanser, der selbst im Rewe-Vorstand saß und dessen Familie 32 Supermärkte betreibt.
Ein Coup gelang Souque mit dem Anschluss von Rewe an das Kundenkartensystem Payback. Die Kooperation konnte nur gelingen, wenn jeder einzelne Kaufmann bereit war, die Payback-Karte zu akzeptieren. Da bedurfte es Überzeugungsarbeit, denn das Bonussystem kostet die Selbstständigen bares Geld.
Avancen aus Frankreich Wenn Souque sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht er es durch — da darf sich niemand von seiner konzilianten Art täuschen lassen. Er kann auch hart sein. Wer versucht, ihn zu drängen, wird direkt zur Rede gestellt: „Wollen Sie mich vielleicht unter Druck setzen?“ Sofern der andere die Warnung nicht versteht, kann es sehr kalt werden im Raum.
Seine Leute in der Zentrale überrascht Souque regelmäßig, wenn er in die Niederungen der Tagesarbeit hinabsteigt. Gern lässt er sich vor Druckfreigabe die Titelseiten der bundesweiten Rewe-Werbung vorlegen, diskutiert mit den Marketingverantwortlichen über die Auswahl der Produkte und die Preise.
Manch einer sieht diese Detailbesessenheit als Schwäche an — die Resultate scheinen ihm indes recht zu geben. Jedenfalls sprachen sich Souques Führungsqualitäten herum. Mehrmals gab es Angebote, auch vom französischen Hypermarktbetreiber Carrefour. 2011 hätte Souque sich aussuchen können, ob er Frankreich- oder Europa-Chef werden wollte. Er besprach sich mit Caparros. Der wollte seinen besten Mann nicht verlieren. „Ich sorge dafür, dass du mein Nachfolger wirst“, versprach er ihm, nachdem er mit dem damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Heinz-Bert Zander und dem 2017 verstorbenen Betriebsratschef Andreas Ratzmann geredet hatte. Als Carrefour Souque 2016 erneut Avancen machte, zurrte der Aufsichtsrat die Nachfolge fest.
Ein zweiter fähiger Bewerber musste hinten anstehen: Vorstand Jan Kunath — ebenfalls altgedienter Rewe-Mann, dessen Karriereweg sich mehrfach mit dem von Souque gekreuzt hatte. Kunaths größtes Verdienst ist die Sanierung von Penny.
Aber die Kontrolleure blieben bei ihrem Votum für Souque – auch weil der kein Geheimnis daraus machte, dass er sonst Rewe verlassen würde. Souque ist der Offenere, Extrovertiertere der beiden. Und geschickt, wenn’s nottut. Er war es, der die Verhandlungen mit Edeka und dem Kaiser’s-TengelmannEigner Karl-Erivan Haub zu einem für Rewe guten Ende führte.
Caparros, den eine innige gegenseitige Abneigung mit Haub und Edeka-Chef Markus Mosa verbindet, war für die Detailgespräche nicht mehr vermittelbar. Brutal hatte er die bei Edeka sicher geglaubte Komplettübernahme von Kaiser’s Tengelmann durchkreuzt. Nachdem Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel mit einer Ministererlaubnis das Kartellamtsveto ausgehebelt hatte, klagte Caparros dagegen und bekam im einstweiligen Verfahren Recht. „Wir hatten die Atombombe in der Schublade“, beschreibt er heute den Höhepunkt der Eskalation.
Altkanzler Gerhard Schröder schlichtete schließlich. Caparros zog die Klage zurück und schickte Souque los, um auszuhandeln, welche 60 Läden im wichtigen Berliner Markt an Rewe fallen sollten.
Zu Edeka-Chef Mosa hat der neue Boss ein emotionsloses Verhältnis. Dass der Konkurrent mehr Umsatz macht, kann er derzeit nicht ändern. Doch er will immer zeigen, dass Rewe besser ist.
Souques Führungsrolle wird auch von Kunath akzeptiert, von Rivalität ist nichts zu hören. Die Loyalität des Unterlegenen belohnte der Aufsichtsrat mit der Position des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden – ein Amt, das es vorher bei Rewe nicht gab. Sonnenkönig Caparros hätte niemals einen Vize neben sich geduldet. Souque und Kunath traut man hingegen zu, dass sie als Gespann harmonieren.
Vor allem kommt es nun darauf an, Qualität und Attraktivität des Rewe-Lieferservice zu steigern, auch gegen die neue Konkurrenz Amazon Fresh. Intern wird Souque die Berichtswege neu ordnen. Allzu viel lief bisher auf den Autokraten Caparros zu.
Und auch einige Mittelmanager wird er wohl austauschen. Wenn Leute die Ziele nicht erreichen und er zur Überzeugung gelangt, dass sie dies auch künftig nicht schaffen, trennt er sich. Die Sache mit Toni Schumacher Der neue Rewe-Chef, obschon französischer Staatsbürger, gilt als Kölner durch und durch. Caparros hingegen, der seit 2015 neben dem französischen auch den deutschen Pass besitzt, ist in der Domstadt nie richtig angekommen. Er wohnt in Düsseldorf. Privat getroffen haben sich die beiden Ehepaare trotzdem.
Souques Frau Laure hat sich aus dem Bankgewerbe verabschiedet. Sie betreibt mit einer Freundin in Köln heute ein kleines Modelabel („Malio“). Schneidern lässt sie in Italien.
Vor ein paar Jahren zogen die Souques mit ihren drei Kindern innerhalb Kölns um. Am rückwärtigen Gartenzaun kam es kurz darauf zu einer kuriosen Begegnung. Ein älterer Herr, der im Garten arbeitete, fragte Souque vom Nachbargrundstück: „Was machen Sie denn hier?“ Es sprach Hans Reischl, der große alte Rewe-Chef.
Zum souqueschen Sommerfest steigen natürlich auch die Reischls über den Gartenzaun. Und als an einem Wintersonntag bei den Souques die Heizung ausfiel, half der Ex-Boss dem Nachbarn mit Kaminholz aus.
Zudem teilen die beiden Handelsgranden eine gemeinsame Leidenschaft: den 1. FC Köln. Schon als Trainee hatte der fußballbegeisterte Souque sein Herz an den FC verloren. 2004, lange bevor er bei Rewe etwas zu sagen hatte, begann der Konzern mit Bandenwerbung, drei Jahre später wurde Rewe auch Trikotsponsor.
Nahezu jedes Heimspiel verfolgt Souque im Stadion. Wie alle Führungskräfte spendet er für einen Besuch in der Rewe-Loge einen dreistelligen Betrag an den Verein Kindernothilfe. Die restlichen Plätze werden an Ehrengäste und als Incentives an verdiente Mitarbeiter vergeben.
Den FC-Vizepräsidenten Harald „Toni“ Schumacher nennt Souque seinen Freund, was einige seiner Landsleute befremdet. Der frühere Kölner Torwart und Nationalkeeper ist seit 1982 in Frankreich eine Hassfigur. Bei der WM in Spanien prallte er im Halbfinale gegen Frankreich mit Verteidiger Patrick Battiston zusammen, der sich dabei schwer verletzte. Zu allem Überfluss verloren die Franzosen im Elfmeterschießen, weil Schumacher zweimal hielt. Die französische Presse sprach empört von einem Attentat auf Battiston und zog Nazivergleiche.
Damals war Lionel zehn Jahre alt. 31 Jahre später zog er in den Aufsichtsrat des 1. FC Köln ein und hat seitdem qua Amt mit Schumacher zu tun. 2016 übernahm er den Vorsitz, ohne zu zögern. Souque hat gern das Sagen, kritisiert Verpflichtungen einzelner Spieler und mischt sich auch schon mal in die Vertragsgestaltung ein.
Dem französischen Torjäger Anthony Modeste und dessen Frau Maeva half er beim Einleben in Köln, Laure Souque besorgte ihnen ein Kindermädchen. Als der Stürmer 2016 ein lukratives Angebot aus China bekam, trug der Rewe-Manager dazu dabei, Modeste zu halten. Möglicherweise kommt er dem Verein nun doch abhanden.
Auch am 20. Mai 2017, dem letzten Spieltag der Saison, war Souque im Stadion. Er freute sich über den 2:0-Sieg gegen Mainz 05 — wohl wissend, dass der sein Unternehmen viel Geld kosten würde. Die Kölner rückten auf Platz fünf vor, was ihnen die Teilnahme an der Europa League sicherte — und die Kosten für den Hauptsponsor Rewe hochtreiben wird.
Derzeit wird über einen neuen Vertrag verhandelt, der aktuelle läuft 2018 aus. Momentan zahlt Rewe 4,6 Millionen Euro jährlich an den 1. FC Köln – für Banden und Trikotwerbung sowie die Loge. Für die Zukunft verlangen die Fußballbosse 7 Millionen Euro.
Mit den zähen Verhandlungen hat Souque direkt nichts zu tun, darf er auch gar nicht. Zu konfliktträchtig ist seine Doppelrolle als Aufsichtsrat beim FC und als Vorstand bei Rewe. In beiden Gremien verlässt er die Sitzung, sobald es um das Sponsoring geht. Die aktuellen Gespräche mit den Kluboberen führt Rewe-Kommunikationschef Martin Brüning.
Was nicht heißt, dass Souque nicht Anteil am Geschehen nähme.