Darmstadt. An einem lauen Abend Ende Mai verschwand Stefan Oschmann zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Geschäftsleitung des Darmstädter Chemie- und Pharmakonzerns Merck inmitten einer Traube von Arbeitern vor den Werkstoren an der Frankfurter Straße. Die Szene spielte sich kurz nach zehn ab, die Spätschicht war gerade beendet, die Werktätigen drängten nach draußen, und der Konzernchef gab sich alle Mühe, die Aufregung wieder einzufangen, die er ein paar Tage zuvor mit einer reichlich erklärungsbedürftigen Ad-hoc-Mitteilung losgetreten hatte. Merck denke darüber nach, sich aufzuspalten und die drei Geschäftsfelder (Pharma, Chemie und Laborausrüstung) in rechtlich selbstständige Einheiten zu verwandeln, hatte er verkünden lassen. Die Begründung, dass sich die reorganisierte Firma besser steuern ließe, hatte weder die Betriebsräte noch die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsgremien überzeugt. Sie fürchten, dass hinter dem Split weit mehr stecken könnte. Denn auf diese Art lassen sich Konzernteile leichter verkaufen oder fusionieren. Die Belegschaftsvertreter waren alarmiert, weil das Topmanagement schon früher ähnliche Überlegungen angestellt hatte. Damals ging es um die lange darbende Pharmasparte. Nachdem die Aufsichtsbehörden mehreren neuen Medikamenten die Zulassung versagt hatten, suchte Oschmanns Vorgänger Karl Ludwig Kley verzweifelt nach einer Lösung für den Problemfall. So verfiel er auf Fusionsverhandlungen mit einem familiengeführten Konkurrenten aus dem europäischen Ausland.
Auch mit dem rheinischen Rivalen Bayer gab es Gespräche in der heiklen Frage (Bayer plant Evonik-Übernahme). Die Leverkusener hätten das Pharmageschäft übernehmen sollen, im Gegenzug wäre die Merck-Familie als Ankeraktionär bei Bayer eingestiegen. Der Deal hätte die bei Bayer stets latent vorhandene Angst vor einer Übernahme durch einen aggressiven US-Konkurrenten wie Pfizer für viele Jahre aus der Welt geschafft.
Es kam dann doch anders. Kley hielt die Sparte, auch weil der damals frisch verpflichtete Pharmachef Oschmann mit der Neuauflage der Multiple-Sklerose-Pille Cladribin und dem zusammen mit Pfizer vermarkteten Krebswirkstoff Avelumab wieder zukunftsträchtige Medikamente in die Pipeline leitete.
Heute bangen die Arbeitnehmervertreter eher um die Zukunft der Chemiesparte. Das über Jahre hinweg hoch ertragreiche Geschäft mit Flüssigkeitskristallen für die Beleuchtung von Computerbildschirmen und Handydisplays ist bedroht. Zum einen bauen chinesische Wettbewerber ihre Kapazitäten gerade massiv aus. Zum anderen wird die auf Flüssigkristallen basierende Technologie Zug um Zug von leuchtenden Dünnschichtbauelementen, sogenannten OLEDs, abgelöst. Im schlimmsten Fall könnten die beiden Markttrends das Chemiebusiness derart stark belasten, dass sich Oschmann zu einem Verkauf gezwungen sieht.
Die Frage wird indes nicht heute oder morgen entschieden, was sich auch an der Agenda der Arbeitnehmervertreter ablesen lässt. Die wollen sich zunächst einmal um die Sicherung ihrer Mitbestimmungsrechte in der neuen Organisationsstruktur kümmern. Eher ein Zeichen dafür, dass sie nicht mit einem schnellen Deal rechnen.
Insoweit war Oschmanns Charmeoffensive vor den Darmstädter Werkstoren durchaus erfolgreich.