Dortmund. Oh ha… wer hätte das gedacht. Es kursiert die Vermutung, dass die Chefs und auch Mitarbeiter deutscher Start-up-Unternehmen sich eine äußerst unangenehme Eigenschaft angewöhnt haben: Sie nutzen ihren Unternehmenserfolg und eine lockere und ungezwungene Atmosphäre innerhalb der jungen Gründerszene, um eigenen sexuellen Gelüsten nachzukommen und männliche wie weibliche Mitarbeiter/innen sexuell zu belästigen. Aktuellen Untersuchungen nach gehört neben einem lockeren Ton und einer legéren „was-kostet-die-Welt-Einstellung“ eben auch zum Alltag, bestimmte Grenzen von Anstand und Benehmen zu überschreiten. Aber wer wieder einmal dachte, dass nur weibliche Angestellte zu den „Opfern“ gehören, der täuscht sich: Etwa 25% der Frauen leisten sich mittlerweile sexuelle Übergriffe.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist kein Thema, welches neu ist. Laut Familienministerin Katarina Barley (SPD) haben mehr als die Hälfte aller Frauen schon einmal Übergriffe während der Arbeit erlebt. Immer wieder kommt es zu sexistischen Vorfällen, die einerseits gezielt vorgetragen werden, und andererseits als solche interpretiert werden, weil meistens Vorgesetzte den Angestellten auf irgendeine Weise zu nahekommen. So, wie es jahrzehntelang kolportiert wird, grassiert der Spruch, dass Erfolg bekanntermaßen sexy macht – aber nur dann, wenn es nicht gegen den Willen von Personen geht, die sich gegen sexistische Übergriffe im Firmenalltag zur Wehr setzen müssen.
Untersucht von „Innofact“ einem Marktforschungsinstitut aus Nordrhein-Westfalen, lässt sich aktuell feststellen, dass es Mitarbeiterinnen in Start-up-Firmen doppelt so oft mit grapschenden Chefs oder Kollegen zu tun haben, wie in herkömmlichen Wirtschaftsunternehmen. Befragt wurden dafür 200 Frauen aus der Gründerszene und ca. 1.000 Frauen aus anderen Firmen der Mittelstands- und Großindustrie. Eigenen Nachforschungen der „Bild-am-Sonntag“ gemäß behauptet sogar jede 2. Kollegin eines Start-ups, dass sie sich mindestens einmal sexuell belästigt gefühlt hat während ihrer Arbeitszeit. Das sind alarmierende Verhältnisse, die eine Menge Fragen aufwerfen.
Was früher in den achtziger und neunziger Jahren eher als Scherz angesehen wurde und speziell in Handwerksbetrieben „zum guten Ton“ gehörte, nämlich der Kollegin einen Klaps auf das Hinterteil zu geben oder ihr einen „lockeren Spruch“ hinterher zu schicken, ist heute nicht nur verpönt, sondern auch verboten. Da reicht es aus, die Kollegin einmal im Nacken zu massieren oder einen anzüglichen Satz zur „sexy Figur“ von Kollegen loszulassen, um kurz vor einer schriftlichen Abmahnung zu stehen. Ebenso wie das Verfassen von anzüglichen Mails oder auch eindeutigen, sexuell motivierten Provokationen. Was sich dagegen in Start-up-Unternehmen abspielen soll, ist allerdings weitaus krasser.
Angeblich kommt es in dieser Unternehmenssparte doppelt so häufig zu sexuellen Belästigungen und Übergriffen wie in den alteingesessenen Firmen. Woran das liegen kann, darüber streiten sich die Gelehrten. Hauptgrund ist offensichtlich die Tatsache, dass man sich unkonventionell gibt, die Anstandsregeln anders interpretiert und darüber hinaus die meist jüngeren Mitarbeiter diese Umgangsart vorerst tolerieren. Doch wie weit kann man gehen, bevor sich ein Kollege oder eine Kollegin belästigt oder diskriminiert fühlt?
Grundsätzlich muss sich anscheinend etwas in den Köpfen der Beteiligten ändern, um zu verstehen, dass Disziplin und Respekt keine Frage des Arbeitsumfeldes sind. Da kann es nicht sein, dass etwa 20% der Start-up-Mitarbeiterinnen gegen ihren Willen geküsst werden, 27% zweideutige Mails oder SMS erhalten und jede Dritte befragte Mitarbeiterin von unerwünschten Umarmungen und Neckereien spricht. Viele von diesen trauen sich nicht, Beschwerde einzulegen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden oder beim Kunden, der sich auch schon mal zu Anzüglichkeiten hinreißen lässt, in Ungnade zu fallen. Dabei sind etwa 42% der Deutschen der Meinung, dass vor 20 Jahren sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz noch nicht so gravierend waren gegenüber heute. Was Start-ups betrifft, liegen die Menschen damit richtig.
Hier scheint das Fehlverhalten in dieser Hinsicht auszuufern. Bestes Beispiel dafür ist der Chef des privaten Taxi-Fahrdienstes Uber, Travis Kalanick, dessen Start-up-Karriere jetzt jäh endete, weil die Geldgeber dieses bekannten Crowdfunding-Unternehmens ihn zum Rücktritt gedrängt hatten. Grund: Mitarbeiterbeschwerden über miserablen Führungsstil gepaart mit 47 Fällen von sexueller Belästigung gegenüber Kolleginnen. Auch hier hatte der Start-up-Lenker und Star der Szene gedacht, Erfolg mache unantastbar und konventionelle Benimm-Regeln seien für ihn nicht bindend. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich herausstellte. Und dennoch Stigma für eine ganze Branche: Schnelles Wachstum, überproportionaler Erfolg, übersteigertes Ego und das Gefühl von Unantastbarkeit – alles Faktoren, die dazu anstacheln, den Macho heraushängen zu lassen und Konventionen mit Füßen zu treten. Nicht umsonst stellt sich also die Frage: Sind die meist jungen Chefs deutscher Start-ups die Schlimmsten, oder ist an diesem Vorwurf nichts dran? Zumindest erkennt man eine neue Unternehmenskultur, die viel mehr Nähe in der Zusammenarbeit, einen kumpelhaften Umgang und ein neues Wir-Gefühl hervorbringt. Dass manch ein Gründer und dessen Kollegen diesen Wandel mit mehr sexueller Freizügigkeit im Arbeitsalltag interpretiert, ist eine Entwicklung, die manche bedrohlich finden, andere aber als Teil einer neuartigen Start-up-Kultur zu akzeptieren scheinen.