Bremen. Heinz K. stürzt ein Werkzeugkoffer auf den Fuß. Eine harmlose Verletzung, denkt er – ein Jahr später wird dieser Fuß amputiert. Im modernen Zeitalter der Medizin, in dem man z.B. Organe sowie Stammzellen transplantieren und Leukämie heilen kann, sterben immer mehr Menschen an Bagatellerkrankungen wie z.B. Schürfwunden oder Erkältungen. Ursache: Multiresistente Keime, die sich in Deutschland und auf der ganzen Welt wie eine Epidemie verbreiten und Ärzte vor Ratlosigkeit stellen. Viele Experten sprechen mittlerweile von einem Anbruch ins „post-antibiotische Zeitalter“. Doch wie konnte es nur so weit kommen, dass die wirksamsten Waffen gegen tödliche Bakterien nunmehr nutzlos werden und sich dadurch die Sterberate explosionsartig erhöht?
Oftmals werden Ärzte wegen ihrer hemmungslosen Verschreibungspraxis kritisiert und als Unterstützer der Bildung von multiresistenten Keimen verunglimpft. Bei Schnupfen, Grippe oder Halsweh wird prompt der Rezeptblock gezückt und die Wunderpillen verschrieben. Schließlich erfülle man so auch die Erwartungen der Patienten. Doch eben durch diesen unsachgemäßen Einsatz verlieren Antibiotika zunehmend an Wirkung und die Bakterien entwickeln Resistenzen. Denn Bakterien sind ausgesprochen anpassungsfähig. Um zu überleben, können sie Abwehrmechanismen entwickeln. Wenn sie dann in Kontakt mit Antibiotika kommen, überleben nur die besonders robusten Supererreger, die gegen viele Antibiotika Resistenzen schaffen und diese an andere Bakterien weitergeben können. Die Erreger teilen und vermehren sich ständig. Aus einem können innerhalb eines halben Tages mehr als eine Milliarde werden.
Doch auch wenn die Ärzte durch Unwissenheit oder einem falsch verstandenen Sicherheitsbedürfnis auf exzessivste Weise Antibiotika verschreiben, kann dies nicht der Ursprung sein. Vielmehr nehmen sie eine streuende Rolle ein. Denn die Hintergründe sind viel grauenhafter und verheerender als man sich vorzustellen vermag…
Die Spurensuche führt nach Indien. In dem Land, das mit seiner Pharmaindustrie die ganze Welt mit Antibiotika versorgt, grassieren besonders viele dieser antibiotikaresistenten Bakterien. Stellt sich die Frage, ob das eine mit dem anderen im Zusammenhang steht. Zur Untersuchung wurden Proben an den verschiedensten Orten in Hyderabad, der indischen Pharmahauptstadt, genommen. Vom Spülbecken eines indischen Imbisses am Straßenrand über Reisfelder und dem Musi River, welches mit der deutschen Elbe vergleichbar ist, bis hin zu den Abwasserkanälen in unmittelbarer Nähe der Pharmafabriken – all diese wurden in Deutschland untersucht, um zu sehen, gegen welche Antibiotika die dortigen Bakterien resistent sind. Das Ergebnis ist dramatischer als befürchtet.
Ausschließlich alle Proben enthalten eine Flut von Bakterien, die Unmengen an Resistenzgenen tragen – und zwar der allerschlimmsten Art. Man findet diese auf dem Reisfeld, auf einer Herrentoilette im Stadtpark, im Stadtpark selbst, im Waschbecken eines Imbissstandes und in extremster Form im Musi River. Auch in den Abflussgewässern der Fabriken wurden antibiotikaresistente Bakterien in einem solchen Ausmaß gefunden, wie man es nie erwartet hätte. Die Pharmafirmen tragen also zur Entstehung dieser Supererreger erheblich bei. Die indische Firma MSN etwa ist ein wichtiger Partner für viele deutsche Pharmaunternehmen. In einem Werbespot präsentiert sie sich umweltfreundlich und wirbt mit deutschen Partnerunternehmen wie Stada und Ratiopharm sowie mit internationalen Zertifizierungen, unter anderem vom Gesundheitsamt Hamburg. Tatsächlich wird der Fabrik jedes Jahr ein Besuch von Kontrolleuren aus Deutschland und anderen EU-Nationen abgestattet, um zu überprüfen, ob die für die EU-Länder hergestellten Medikamente ordnungsgemäß produziert werden. Kontrolliert wird jedoch nur der pharmazeutische Prozess. Was vor der Fabrik passiert, wo die Abwässer hingeleitet werden, wie sie aufgearbeitet werden usw. sind in der Zertifizierung nicht enthalten. Diese Fragen dürfen gar nicht erst geprüft werden, weil es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Und die Pharmaunternehmen in Indien leiten feuchtfröhlich ihre Abwässer direkt in die Seen. Denn diese fachgerecht zu entsorgen, kostet viel Geld. Sie einfach in die Umwelt zu kippen ist billiger.
Unsere Investigativ-Journalisten nahmen auch an der Indian Pharma Week teil, eine der größten Pharma-Messen in Asien. Was hier gehandelt wird, steht später in unseren Apotheken in Deutschland, wird in unseren Krankenhäusern eingesetzt und von niedergelassenen Ärzten verschrieben. In einem Gespräch mit dem Verbandschef der exportierenden Pharmaunternehmen erhielten wir auf die Frage, ob bei der Produktion von Antibiotika durch die großen Pharmaunternehmen wie MSN auf Umweltfreundlichkeit und eine fachgerechte Entsorgung der Abwässer geachtet wird, erhielten wir folgende Antwort: „Die Firmen in Hyderabad kümmern sich sehr wohl um Umweltbelange. Heutzutage legen sowohl die großen, als auch die kleinen Firmen viel Wert darauf, bei ihrer Produktion. Die Umwelt sollte dadurch nicht verschmutzt werden“.
Als wir unsere in Auftrag gegebenen Untersuchungen und deren Ergebnisse ansprachen und fragten, wer dafür verantwortlich sei, wurde sich folgendermaßen dazu geäußert: „Na gut, das könnte so aussehen, aber es ist nicht so…oder es sollte nicht so sein. Von den Fabriken geht das Abwasser ins städtische Klärwerk. Wir bereiten es erst auf und dann geht es nirgendwo anders hin als ins Klärwerk“ Die Fabriken produzieren sauber, betonen die Funktionäre immer wieder und sprechen sogar warnende Worte aus: „Für Ihre Behauptungen brauchen Sie handfeste wissenschaftliche Beweise“. Diese konnten wir liefern: Die aus dem Abwasserkanal direkt vor der Fabrik MSN entnommene Probe wies einen 5.500-fach höheren Wert an Antibiotika auf als der von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagene Grenzwert. Moxifloxacin, ein Antibiotikum, welches in der Natur sehr stabil und nicht leicht abzubauen ist, ist nur eines der vielen in den Proben nachgewiesenen Antibiotika, deren Masse im direktem Zusammenhang mit der explosionsartigen Vermehrung multiresistenter Erreger steht.
Der Umwelt-Pharmakologe Joakim Larsson, der weltweit eine führende Rolle bei der Erforschung multiresistenter Bakterien einnimmt, warnt schon seit Jahren vor der schmutzigen Antibiotika-Produktion in Asien. Seiner Meinung nach liegt es an dem enormen Preisdruck, der bei der Herstellung von Medikamenten herrscht. Daher würde nun mal auf die einfachste und billigste Art produziert werden. In Europa ist die Produktion teuer. Hier sind die Umweltauflagen streng und die Klärung der Abwässer kostspielig. Aus diesem Grund wird die Produktion von Medikamenten zunehmend ins Ausland verlagert.
90% der Grundstoffe für Antibiotika werden in China produziert. Diese werden nach Indien zur Weiterverarbeitung transportiert und von dort aus die ganze Welt mit Antibiotika beliefert. In Deutschland liefern sie unter anderem an Hexal, Ratiopharm und Stada. Das weiß nur kaum jemand. Denn selbst, wenn die Medikamente in Deutschland nur noch verpackt und kontrolliert werden, können die Firmen die Verpackungen mit dem seit je her für Qualität stehende Gütesiegel „Made in Germany“ verzieren.
Die schmutzigen Produktionsprozesse von Medikamenten haben wir im Zuge der Globalisierung und dem steigenden Preisdruck zwar ins Ausland verlagert, holen uns die ganzen Probleme aber durch die Importe wieder rein und gefährden damit unsere Gesundheit. Dass im 21. Jahrhundert die Menschen zunehmend an einfache, belanglose Infektionen ihr Leben lassen müssten, hätte noch vor 10 Jahren kaum jemand für möglich gehalten. Doch diese Bakterienwelle marschiert unaufhaltsam durch die Welt und lässt die Ärzte immer mehr verzweifeln. Kaum ein Antibiotikum kommt gegen die Schar der Resistenzgene der Supererreger an und ist schlichtweg wirkungslos. Und das Paradoxe dabei ist, dass die Pharmaunternehmen, also die Hersteller von Medikamenten, die Krankheiten heilen sollen, selbst zum großen Teil verantwortlich für die tödlichen Krankheitserreger sind…