Berlin/Brüssel. Es gibt einen alten sowjetischen Witz über Radio Eliwan. Ein Hörer fragt: „Ist es wahr, dass Rabinovich in der Lotterie ein neues Auto gewonnen hat?“ Die Antwort: „Im Prinzip ja. Es war nur kein neues Auto, sondern ein altes Fahrrad, und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.“
Dasselbe gilt für die französische Präsidentschaftswahl: Ist es wahr, dass das französische Volk einen Außenseiter gewählt und eine Gefahr für Europa abgewendet hat? Im Prinzip ja. Nur dass der siegreiche Emmanuel Macron ein Europa verkörpert, das den Kontakt zu den normalen Bürgem verloren hat. Das heißt, die eigentliche politische Lage verleiht Le Pen eine große Stärke. Und Macron ist kein Außenseiter, sondern reinstes Establishment.
Natürlich gibt es offensichtliche Unterschiede zwischen Macron und Le Pen. trotzdem ist die Wahl zwischen beiden keine wirkliche Wahl. Le Pen ist eine rassistische Populistin, aber sie spricht die Unzufriedenheit von Arbeitern und anderen normalen Leuten an. Macron präsentiert sich als tolerant und proeuropäisch, aber die ökonomischen Vorstellungen, für die er steht, sind der Hauptgrund für die verbreitete Unzufriedenheit mit Europa.
Die Obszönität der Situation ist atemberaubend: Nicht die Linke, sondem der globale Kapitalismus stellt sich als letzter Schutz gegen den Faschismus dar. Und wer auf die politische Begrenztheit der Macron’schen Politik hinweist, der wird einer Komplizenschaft mit dem Faschismus beschuldigt, weil — wie verschiedene Medien schreiben — die extreme Linke und die extreme Rechte heute zusammenfinden. Beide seien antisemitisch, national-isolationistisch und antiglobalistisch. Darum geht es in der ganzen Operation: die Linke als Trägerin einer wirklichen Alternative zum Verschwinden zu bringen. Und einige linke Parteien tun dem Establishment auch den Gefallen, diese Vorwürfe zu bestätigen — man denke nur an die nationalistisch isolationistischen Positionen des französischen Linksaußen-Kandidaten Jean-Luc Mélenchon. An diesem Punkt kommen wir zu der Ironie der Alt und Weise, wie Ideologie heute funktioniert, nämlich als radikale Kritik ideologischer Utopien. Die vorherrschende Ideologie ist keine positive Vision einer Utopie, sondem eine zynische Resignation, eine Akzeptanz der „Welt, wie sie wirklich ist“ , ergänzt um die Wamung, dass zu viel Änderung nur in totalitärem Schrecken enden kann. Jede Vorstellung von einer alternativen Welt wird damit als Ideologie niedergemacht.
Das ist es, was Tony Blair im Sinn hatte, als er vor Kurzem in einem Artikel für den „New Yorker“ fragte: „Ist es möglich, eine Politik zu definieren, die ich postideologisch nennen würde? “
Um zu verstehen, wie diese Ideologie funktioniert, sollten wir die wohlbekannte Wendung „Du musst dumm sein, wenn du das nicht siehst“ auf den Kopf stellen: „Du musst dumm sein, wenn du das siehst. “ Und zwar was? Auf ihre zynische Weise verkündet die Es-gibt-keine-Alternative-Ideologie: „Du musst dumm sein, das zu sehen“ die Hoffnung auf einen radikalen Gesellschaftswandel.
Drei Dinge braucht der Wahlkampferfolg: Geschlossenheit, Geschlossenheit und Geschlossenheit. Was uns die SPD dagegen bietet, ist eine erschreckende Kakofonie. Und damit steht sie nicht allein. Ob in England, Frankreich oder den USA: Überall herrscht in den sozialdemokratischen Parteien die pure Konfusion.
Das aber verweist auf das tiefer liegende Problem: Mit den Niederlagen Hillary Clintons und Francois Hollandes ist der sogenannte Dritte Weg final gescheitert. Dieses neoliberale Vierteljahrhundert verkörpern Bill Clinton (1993-2001), Tony Blair (1997-2007), Gerhard Schröder (1998—2005) und — als letzter Ausläufer — Francois Hollande. Heute steht die gesamte Sozialdemokratie vor den Trümmem ihrer Politik der Deregulierung und des Sozial- und Staatsabbaus. Ihre Wählerschaft hat sich halbiert, ihre Mitgliederschaft ist tief gespalten. Die Sozialdemokratie muss sich daher entscheiden: Geht sie den Weg zurück zu ihren Wurzeln — als Sachwalterin der kleinen Leute — um die verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückzuerobern? Oder verliert sie sich weiter in einer nebulösen Mitte, die schon lange von Christdemokraten, Grünen und Liberalen besetzt ist — und in der die sozialdemokratische Linke schlicht überflüssig ist?
Gerhard Schröder hatte erkannt: Im Rückspiegel kann man den Weg nach vorn nicht finden. Mit Martin Schulz versuchen die Sozialdemokraten aber genau das: Sie beschwören ihre stolze Geschichte, rufen „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“, behaupten, „mit uns zieht die neue Zeit“.
Was für ein Irrtum. Die Zeiten sind andere geworden. Die meisten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vertrauen sich nicht mehr blind den Gewerkschaften an, träumen nicht mehr vom Vollkasko-Versorgungsstaat. Die „hart arbeitende Mitte“ hat gelernt: Der Staat kann an Wohltaten nur geben, was er ihr vorher als Steuern und Abgaben abgenommen hat. Am Ende zahlt immer die Mitte.
Zudem ist der SPD am linken Rand ein neuer Konkurrent entstanden. Den Wettbewerb um die utopischsten Verheißungen gewinnt immer Die Linke. Die Schulz-SPD pflegt das Image eines barmherzigen Samariters. Das ist sympathisch, geht aber am Lebensgefühl der Mehrheit vorbei. Der „kleine Mann“ ist groß geworden. Mündige brauchen keinen Vormund.
Der Schulz-Hype ist vor bei, die SPD steuert in den Umfragen wieder die 25 Prozent an. Kanzlerin Merkel hat die Union wieder hinter sich gebracht und marschiert in den Umfragen in Richtung 40-Prozent-Marke. Ist die SPD in der Krise? Sie selbst mag das so sehen. Wenn sie sich daran misst, dass Schulz das Ziel verkündet hat, Kanzlerpartei zu werden. Das war wohl ein wenig hoch gegriffen. Schaut man realistischer auf die Lage der SPD mitten in Europa, dann steht sie schlechter als mit Gabriel dar.