Paris. Sollte es dem Politstar Macron aus Paris gelingen selbst den abgestürzten Arbeiterhochburgen den Glauben an sich zurückzugeben, kann ihm den zukünftigen Erfolg keiner mehr nehmen.
Anfang März, im kleinen Rathaus von Grand-Charmont, im Osten nahe der Schweiz. Altes Peugeot-Land, alle rätseln noch, was der Opel-Kauf für sie bedeutet. Zwei Briefe liegen auf dem Schreibtisch von Stadtoberhaupt Denis Sommer: Einer ist von Benoit Hamon, dem sozialistischen Kandidaten, der andere von Macron. Frankreichs Bürgermeister wurden in diesen Tagen heftig umworben, jeder Kandidat braucht 500 Unterschriften von Mandatsträgern, um überhaupt antreten zu dürfen.
Sommer greift sich den Brief des Sozialisten. Hamon ist sein Parteifreund, der Fall sollte klar sein. Sommer hat selbst über zehn Jahre bei Peugeot gearbeitet, war dort Kopf der kommunistisch gelenkten Gewerkschaft CGT, bevor er studieren konnte und vor 16 Jahren Bürgermeister wurde.
Aber die Gewissheiten von früher bröckeln genauso wie die Arbeiterwohnblöcke, die diese Gegend prägen. Viele der Bauten, die der Fortschrittsglaube hier einst hinsetzte, stehen zum Teil leer, sie künden vom Niedergang.
Vor über 30 Jahren zählte das Stammwerk von Peugeot 43 000 Beschäftigte, heute sind es noch 10000. Die Sicherheit firmeneigener Läden, Sportplätze und Schulen ist verschwunden. 2014 musste die Familie Peugeot die Kontrollmehrheit im damals hoch defizitären PSA-Konzern aufgeben. Der ruhmreiche Ex-Erstligaklub FC Sochaux, dessen Stadion gleich am Werk liegt, ging an Investoren aus China.
Marine Le Pen kommt seit Jahren ans Fabriktor, um medienwirksam Flugblätter zu verteilen. Anfangs haben sich die Arbeiter verweigert, dann haben sie die Zettel missmutig eingesteckt. Inzwischen machen sie Selfies mit der Frau, die sich als Retterin der Geschundenen inszeniert. Bei den jüngsten Wahlen holte der Front National hier rund ein Drittel der Stimmen. Ein Stadtrat kennt alte Genossen von der CGT, die offen mit Le Pens Partei sympathisieren. „Wir hätten die damals rausgeschmissen“, sagt er mit Nachdruck.
Seine Region ist kein Einzelfall. Anders als in Deutschland hat sich die Industrie in Frankreich nach der Weltfinanzkrise nie wirklich erholt. Die Exporteure verlieren immer weiter an Weltmarktanteil. Die Deindustrialisierung ist ähnlich weit fortgeschritten wie in Großbritannien, wo im vergangenen Jahr vor allem die wirtschaftsschwache Provinz für den Brexit stimmte.
Noch sei Frankreich nicht verloren, sagt der Stadtrat. Er zeigt die sanierten städtischen Wohnblocks, den Park, den sie mit Freiwilligen angelegt haben. Die Statistik, die wieder Zuzug ausweist.
PSA, vor fünf Jahren fast pleite, profitiert derzeit vom Aufschwung seiner Hauptmärkte in Westeuropa. Und von einer erfolgreichen Sanierung, in der reihenweise französische Tabus gebrochen wurden: Ein Werk bei Paris wurde geschlossen, Lohnverzicht gegen Jobgarantien. Die operative Rendite ist seither höher als bei VW. In Sochaux haben sie Nacht- und Wochenendschichten angekündigt, das gab es seit 16 Jahren nicht. PSA hat versprochen, in den nächsten fünf Jahren 200 Millionen Euro auf dem maroden Stammgelände zu investieren.
Ist Macron ein junger Tony Blair?
Der Stadtrat nimmt den zweiten Brief, den von Macron. Wahrscheinlich, sagt er, werde er für den unterschreiben — auch wenn das in seiner Partei als Verrat gilt und mit Ausschluss bedroht wird. Es brauche einen neuen Kompromiss. Flexibilität schaffen, ohne den sozialen Druck zu erhöhen.
Le Pen will das alte Modell des paternalistischen Staats zurückholen, an dem so viele Franzosen hängen. Der Stadtrat glaubt hingegen, seine Landsleute müssen sich endlich einstellen auf eine veränderte Welt. Der alte Ex-Kommunist klingt da wie der junge Ex-Banker Macron.
Dessen steiler Aufstieg in den Umfragen hat natürlich auch mit seiner Persönlichkeit zu tun. Seiner Unbekümmertheit, dem kühn zur Schau gestellten Machtwillen. Macrons Programm – „nicht links, nicht rechts“ — ist eher brav. Sein Buch zur Wahl heißt zwar „Révolution“, aber er ist ein gemäßigter Sozialdemokrat mit liberalen Einsprengseln.
Er fasziniert als Held des Neuen, weil er eine Geschichte hat, wie sie die Franzosen aus ihren geliebten historischen Romanen kennen: Arztsohn aus Amiens, Ausnahmebegabung im Schultheater und im Literaturkurs, bezaubert und umwirbt jahrelang seine 24 Jahre ältere Lehrerin, bis sie ihn schließlich heiratet. Er absolviert leichthändig die Kaderschmieden Sciences Po und ENA, wechselt zur Investmentbank Rothschild, wird Berater des sozialistischen Präsidenten, setzt als Wirtschaftsminister dessen unpopuläre Reformen um und ist trotzdem beliebtestes Kabinettsmitglied.
Dieser märchenhafte Aufstieg erinnert fast ein wenig an Barack Obama oder den jungen Tony Blair, der die britische Linke in die Mitte führte. Inhaltlich holt Macron für Frankreich manches von dem nach, was Hollande versäumt hat. Aber wie so oft können alle lobenden Worte des Anfangs vergessen sein, davon weiß der ehemalige Tongeber der Briten – nur all zugut zu berichten. Was Emanuel Macron für Reformen anstrebt und wie er sie umsetzt – das werden die ersten 100 Tage Amtszeit zeigen.