Berlin. Aufsichtsräte in den vergangenen Jahren regelrecht kreativ. Tanja Wielgoß (45), eine ehemalige Unternehmensberaterin und Luftfahrtexpertin, wurde an die Spitze der Müllmänner berufen. Die Ärztin Andrea Grebe (55) warb man nahe Stuttgart für den Klinikverbund Vivantes ab. Und auch BVG-Chefin Nikutta hat keine typische BWLer-Karriere vorzuweisen, sie ist studierte Psychologin.
In vielen der 53 Unternehmen, an denen das Land Berlin beteiligt ist vom Flughafen über die Wasserversorgung bis zur Förderbank — sitzen Frauen inzwischen mit in der Chefetage. In nur acht Jahren schnellte ihr Anteil von 5 auf 41 Prozent hoch, während er in der Privatwirtschaft im mittleren einstelligen Bereich verharrt, allen Quotendebatten zum Trotz. Wo kein Zwang, da passiert nichts, stellt die deutsch-schwedische Allbright Stiftung fest, die 2016 mal nachgezählt hat und die freiwilligen Anstrengungen deutscher Unternehmen so zusammenfasst: „Zielgröße: Null Frauen.“
Befördert hat den Durchmarsch der Frauen in der Hauptstadt vor allem „der politische Wille“, in Sachen Gleichstellung Vorbild zu sein, sagt die Personalberaterin Anke Hoffmann, die im Auftrag des Landes etliche Suchen begleitete. Hinzu kam, dass sich mit den Quereinsteigerinnen die Chance ergab, lokale Seilschaften und Erbhöfe endlich aufzubrechen. Das Experiment hat funktioniert, die Unternehmen sind heute deutlich besser geführt als früher.
Sigrid Nikutta hatte kein Headhunter auf der Liste, als es um die Besetzung des BVG-Chefpostens ging. Sie arbeitete damals weit weg von Berlin — als Produktionsvorstand der Bahn-Tochter Schenker Rail in Zabrze, Polen. Ihr Mann fand die Jobanzeige in der Wochenendzeitung und las sie ihr vor. „Am Sonntagabend habe ich vorm Einsteigen in den Flieger noch schnell mein CV gemailt“, erinnert sich Nikutta.
Volle Transparenz – das ist der Leitgedanke des Berliner Landesgleichstellungsgesetzes (LGG), das 2010 reformiert wurde und seither als das schärfste im Bund gilt:
- Vakante Positionen sind bei gleicher Eignung vorrangig an Frauen zu vergeben, bis die Unterrepräsentation in dem Gremium beendet ist.
- Die Suche nach Vorständen und Geschäftsführern ist durch Zeitungsanzeigen öffentlich zu machen.
- Der Ablauf der Personalsuche ist schriftlich zu dokumentieren. Das Argument „Wir hätten wirklich gern Frauen auf unsere Liste gesetzt, aber der Headhunter hat keine passende aufgetrieben“ zieht nicht mehr.
- Aufsichtsräte müssen gar hälftig mit Männern und Frauen besetzt werden.
Die Gesetzesnovelle mischte Berlin und seine Landesbetriebe ordentlich auf. Manch altgedienter Aufsichtsrat räumte unter Tränen das Feld. Selbst die 114 Jahre lang männlich geführte Industrie- und Handelskammer beförderte eine Frau ins Präsidentenamt: die Filmproduzentin Beatrice Kramm (51).
Hartes Taktieren Die mächtigen Businessladys pflegen ihre Netze. Bei „Frauen treffen Frauen“ etwa, einem Kreis um Sybille Uken, altgediente Gleichstellungsaktivistin und einer der Köpfe hinter der LGG-Novelle. Sie essen gemeinsam, laden sich zu Vorträgen gegenseitig in ihre Betriebe ein, empfehlen sich gute Mitarbeiterinnen weiter und — wenn’s nottut – auch mal eine Scheidungsanwältin.
Zugang zum innersten Zirkel gewährt eine Einladung bei Vera Gäde-Butzlaff (62), einer der Vorreiterinnen der Berliner Wirtschaftsfrauenbewegung. Sie ist heute Chefin des privatisierten Energiedienstleisters Gasag. 2003 brachte sie sich selbst für einen Vorstandsposten bei der Stadtreinigung (BSR) ins Spiel, weil sie den Kerlen beweisen wollte, dass auch eine Frau Müllmänner führen kann. 2007 übernahm sie den Vorsitz. Als sie die BSR 2014 verließ, hatte sie den kommunalen Entsorger zum effizientesten in Deutschland getrimmt.
Bei der Gasag treibt sie heute geschickt die Energiewende voran. Und hält dem Senat stand, der die Energieversorgung inzwischen lieber wieder kommunal organisieren möchte und seinem einstigen Landesbetrieb 2014 sogar überraschend die Netzkonzession entzog. Der Schachzug schlug fehl: Die Gasag klagte erfolgreich vor Gericht.
Die ehemalige Verwaltungsrichterin Gäde-Butzlaff ist nicht für Frauenförderung um jeden Preis. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass die Berliner Gesetzgebung Frauen nur „bei gleicher Leistung“ bevorzugt, „das wird ja meist missverstanden“.
Bei der privaten Gasag darf sie ohnehin tun, was sie will. Wenn ein Mann einer Bewerberin überlegen ist, stellt sie ihn ein. Dennoch findet sie die strengen Berliner Regeln gut: „Eine Quote nur für die Aufsichtsräte verändert auf operativer Ebene noch nicht viel.“
Natürlich wird auch unter der Regie des LGG hart taktiert in den Besetzungsrunden. So tat die Männerriege im Personalausschuss des BVG-Aufsichtsrats alles, um die als fachfremd kritisierte Psychologin Nikutta zu verhindern.
Der CEO-Job bei den Verkehrsbetrieben war mit dem Technikressort verknüpft, und Nikutta wollte beides. Man nahm sie ins Kreuzverhör, fragte Details des Lokomotivenantriebs und der Schienensteuerung ab – Fragen, die keiner der drei Mitbewerber in der Finalrunde beantworten musste, sagen die, die dabei waren. Nikutta parierte.
Wie überall hängt viel davon ab, wie aufgeschlossen die Aufsichtsratschefs gegenüber Frauen sind. Und in Berlin gab und gibt es da ein paar sehr moderne Männer, Peter Zühlsdorff etwa, der frühere Wella Boss und heutige Aufsichtsrat bei der Messe Berlin und dem Klinikverbund Vivantes. Dort hält er Vorstandschefin Andrea Grebe die Stange. Oder Ulrich Nußbaum, Tiefkühlfischmillionär aus Bremerhaven und von 2009 bis 2014 parteiloser Finanzsenator von Berlin. Er entschied sich damals für Nikutta.
Der stets elegant gekleidete Unternehmer und Bentley-Fahrer war im Auftrag Klaus Wowereits angetreten, Berlins Schuldenhaushalt zu konsolidieren. Bis heute teilt sich die Metropole in Nußbaum-Hasser und -Fans (die „Taz“ winkte dem „geliebten Sanierer“ nach seinem Abgang melancholisch hinterher). Wo immer der Senator Manager am Werk sah, ersetzte er sie durch „unternehmerisch denkende“ Frauen.
So kam auch Tanja Wielgoß zu ihrem Job als oberste Müllfrau an der Spree. Die geborene Allgäuerin war beim Consultant A. T. Kearney als erste Frau in Deutschland in die Partnerriege aufgepeppt, als sie 2013 für den Aufsichtsratsvorsitz des Pannenflughafens BER gehandelt wurde. Ein Jahr später wurde durch den Abgang von Vera Gäde-Butzlaff der Chefposten bei der Stadtreinigung vakant, und der Senator setzte sich für Wielgoß ein. Sie erhielt den Job, ohne operative Erfahrung. Das sei schon ziemlich mutig gewesen, lobt Nußbaum sich für seine Entscheidung im Nachhinein.
Tanja Wielgoß, rotes Designerkleid, sitzt bei einem Eck-Italiener an der Jannowitzbrücke auf einer klapprigen Bierbank, vor ihr ein klebriger Holztisch, weiter hinten zwei Gestalten, die einen Teller Pasta runterschlingen. Anders als bei ihrem vorherigen Job hat man es bei der Stadtreinigung nicht so mit Spesentempeln.
Bei ihrem Wechsel hat Wielgoß eine veritable Gehaltseinbuße hingenommen. Dafür kann sie jetzt operativ arbeiten. Und das macht sie gut. Die Berliner lieben ihre Müllmänner. Als „Halbgötter in Orange“ lobte sie die Presse. Unter Wielgoß‘ Führung hat die Truppe in einem Arbeitgeber-Ranking kürzlich alle hippen Internetfirmen abgehängt.
Die Kosten für die Abfallbeseitigung pro Einwohner liegen seit sie übernommen hat deutlich unter dem Durchschnitt anderer Großstädte. In einem Ende 2015 neu geschlossenen Vertrag mit dem Land hat sich Wielgoß selbstbewusst verpflichtet, die BSR auch für die nächsten 15 Jahre im Kreis der fünf Topperformer zu halten.
Buddy-freie Zone Ohne internes Netzwerk und branchenfremd an die Spitze, das ist für Frauen normalerweise der sicherste Weg zu scheitern. Nur anderthalb Jahre hielt sich die Ingenieurin und BMW-Motorenexpertin Heike Hanagarth (57) als Technikvorstand der Deutschen Bahn. Die ehemalige Richterin und Daimler-Compliance-Chefin Christine Hohmann-Dennhardt (66) überlebte bei Volkswagen in gleicher Funktion ein Jahr.
In Berlin sind solche Himmelfahrtskommandos der Normalzustand. Die meisten Chefinnen kommen von außen, ohne Buddys. Denn in den tonangebenden Machtnetzwerken des ehemaligen Westens gab es außerhalb der Politik vor allem Hausfrauen.
Da hohe Abfindungen im Berliner Politbetrieb gern als Steilvorlage genutzt werden, dem Senat die Verschwendung öffentlicher Gelder vorzuwerfen, wird bei der Berufung genau hingeschaut. Für Vivantes jedenfalls, neben der Charité Berlins wichtigster Krankenhausträger und mit rund einer Milliarde Euro Umsatz und 15 000 Mitarbeitern größter kommunaler Krankenhausverbund Deutschlands, hat sich die hessische Medizinerin Andrea Grebe als Glücksfall erweisen.
Die Vivantes-Führung galt jahrelang als das reinste Horrorkabinett. Die Leiterin des Klinikmanagements und eine renommierte Chefärztin verließen das Unternehmen im Unfrieden, ihnen wurde eine lesbische Beziehung nachgesagt. Grebes Vorgänger Joachim Bovelet hatte sich mit Finanzsenator Nußbaum heil los zerstritten und hingeworfen. Das gleiche Schicksal ereilte den Finanzvorstand, gegen den später wegen Bestechlichkeit ermittelt wurde.
Während das Spitzenpersonal durcheinandergewirbelt wurde, blieb Grebe cool. Die pflichtbewusste hessische Unternehmertochter biss sich durch und stieg auf: von der Leiterin des Klinikmanagements zur kommissarischen Vorsitzenden der Geschäftsführung und schließlich zur ordentlich bestellten Chefin. „Sicher“ sei man nie auf einem solchen Posten, sagt sie, bester Laune.
Sie krempelt den Klinikkonzern ordentlich um. Für ihr anspruchsvolles Qualitätsmanagementsystem wurde sie 2016 sogar ausgezeichnet. Der rot-rot-grünen Landesregierung, die am liebsten alle Vivantes-Mitarbeiter unter dem Verdi-Tarif vereinigen würde, hält sie die Bilanz entgegen. Vivantes schreibe Gewinn, ja, aber an der Umsatzrendite (2015: 2,6 Prozent) müsse sie noch arbeiten.
„Berlin ist auch ein Haifischbecken“, hat Grebe mal gesagt, und dass man „eine gewisse Durchsetzungsstärke“ brauche, um auf einem Chefposten zu überleben. Selbst Alphamänner wie Hartmut Mehdorn (Bahn, BER) und Rüdiger Grube (Bahn) wurden von den Haien an der Spree am Ende gefressen. Die Berliner Topfrauen bleiben lieber unverdaulich.