Seattle. Das Imperium grüßt schüchtern, aber der Anspruch ist deutlich: „Hello World“ prangt auf weißen Lettern hinter der Fassade eines Büroturms in Seattle, den Amazon „Day 1″ getauft hat. Darunter ein kleiner Supermarkt namens Go. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, tatsächlich aber etwas völlig Neues.
Ein Geschäft ohne Personal. Geschaffen, um den Einzelhandel zu digitalisieren. Eine Revolution. Wieder einmal. Amazon, ein Konzern im ewigen Schöpfungsmodus. 22 Jahre nachdem Jeff Bezos mit seinem Chevy Blazer das erste Buch zur Post gefahren hat, tritt er nun richtig aufs Gaspedal.
Bezos erfindet die Regeln ganzer Branchen neu, ist auf dem besten Weg zum weltgrößten Einzelhändler, baut Flughäfen, tüftelt an autonom fahrenden Lkw, dreht Serien und vermittelt sogar Handwerker. Amazon begnügt sich nicht mit der Rolle als größter Speicherplatz des Internets, sondern liefert als Softwareentwickler und Provider gleich die ganze Infrastruktur. Und düpiert mit seiner künstlichen Intelligenz Alexa die Rivalen Apple und Google.
Kundenzentriert, datengetrieben, standardisiert und steueroptimiert bis zum Exzess, verdient Amazon trotz milliardenschwerer Investitionen inzwischen sogar Geld. Kaum eine Firma ist so stur in ihrer Vision und dabei so flexibel in der Umsetzung.
Der Mann, der dieses Geheimrezept bewahren soll, verdient nicht mehr als ein Sparkassendirektor. Jeff Wilke, Dreitagebart zu kariertem Sakko, arbeitet seit 1999 für Amazon, seit fast einem Jahr ist er CEO. Sein Aufstieg an die Seite von Bezos ist Anerkennung und Vorsichtsmaßnahme zugleich. Seit Nierensteine den Gründer vor drei Jahren dazu zwangen, seinen Urlaub auf den Galapagosinseln abzubrechen, ist seine Gesundheit ein kursrelevantes Thema. Inzwischen steht ein Nachfolgeplan, den Amazon hütet wie einen Atomcode. Dabei gibt es intern kaum einen Zweifel, wer Bezos einmal folgen soll: Wilke.
Der Ingenieur mit Abschlüssen der Eliteunis Princeton und MIT, der schon als Jugendlicher am liebsten Computer programmierte, verantwortet Amazons Kerngeschäft, den Handel. Wenn er spricht, klingt er wie Bezos, er redet vom Segen des Scheiterns und totaler Kundenobsession, nur sein Lachen ist angenehmer. Es ist das gleiche Vokabular, sektenhaft verinnerlicht von allen Mitarbeitern. Teil einer Kultur, die Amazon zwar bisweilen als unerbittlichen Arbeitgeber erscheinen lässt, aber auch so verdammt erfolgreich macht.
Amazon gelingt das, woran geradezu naturgesetzlich alle anderen Unternehmen scheitern: gleichzeitig so flink, mutig und erfinderisch wie ein Start-up zu agieren und von den Skaleneffekten eines Konzerns zu profitieren. Genau das, was Siemens, die Telekom oder General Electric gern könnten. Damit ist Amazon gewissermaßen die Blaupause des neuen Kapitalismus. Das Transatlantic-Journal hat in der Firmenzentrale in Seattle, bei der Amazon-Filmproduktion in Los Angeles, in Prime-Now-Stationen und Forschungslabors dieses Passepartout ergründet.
„Wer von uns lernen will, sollte sich ansehen, wie wir Fehler riskieren und es vermeiden, selbstzufrieden zu werden“, sagt Wilke. „Wir experimentieren ständig, statt auf die eine große Idee zu setzen.“
Allein in den USA meldete Amazon im Vorjahr 1662 Patente an, ein Anstieg von 46 Prozent. „Wir werden immer schneller“, betont Deutschland-Chef Ralf Kleber. „Und das in allen Bereichen.“
Seit Bezos 1994 beschloss, seinen Job an der Wall Street hinzuschmeißen und mit dem Internet Geld zu verdienen, ist die Welt mit und durch Amazon eine andere geworden. 15 Jahre ist es her, dass er bei Michael Otto, Eigner des gleichnamigen Versandhändlers, um 100 Millionen Dollar bat. Damals zweifelte Otto an Bezos‘ Erfolg, heute setzt Amazon mehr als zehnmal so viel um wie Otto: 136 Milliarden Dollar. Allein das Deutschland-Geschäft (14,1 Milliarden Dollar) ist größer als der Gesamtumsatz des Hamburger Traditionskonzerns.
Schon Ende der 90er Jahre formulierte Bezos drei Grundprinzipien:
- Kümmere dich obsessiv um deine Kunden.
- Erfinde und vereinfache.
- Mache jeden Mitarbeiter zum Miteigentümer.
2001 entstand daraus ein Katalog aus 14 Führungsregeln. Und im Unterschied zu vielen anderen Unternehmen, die ihren Prinzipienkatalog irgendwo im Intranet abgelegt und vergessen haben, verwendet Amazons Topmanagement viel Zeit darauf, die Werte zu überprüfen und sicherzustellen, dass sie wirklich gelebt werden. Eigentlich geht es um nichts anderes. Wenn die Manager Bezos‘ Gebote wie „Think big“ oder „Bestehe auf den höchsten Standards“ beschwören, klingt das wie die Selbstvergewisserung einer skurrilen Glaubensgemeinschaft. „Es gibt keine schwarze Magie“, sagt ein früherer Spitzenmanager. Was Amazon auszeichne, sei eine „brutale Qualität im Management“ und die „totale Überzeugung“ von der eigenen Vision. Wer nicht mitzieht, fliegt. „Wie einzigartig das ist, merkt man erst, wenn man anfängt, woanders zu arbeiten.“
Motivations-Events ala Wolf of Wallstreet
Amazon-Mitarbeiter sehen vor allem eine Gefahr: Tag 2. „Die ganze Idee von Tag 1 dient dazu, so innovativ zu bleiben wie ein Start-up“, sagt CEO Wilke. Tag 2, das ist für ihn die metaphorische Trägheit eines Großkonzerns, in dem Diskussionen über Wettbewerb, Titel oder die Größe der Büros den Elan fressen. „Dann werden wir zu vorsichtig“, fürchtet Wilke, „und platzieren keine Wetten mehr.“
Start-up-typisch ist man bei Amazon stolz auf seine Fehlertoleranz. Wichtige Meetings beginnen mit der Zusammenfassung derjüngsten Irrtümer. Und da gibt es einige. Zu den berühmtesten Flops zählen das Smartphone „Fire“ und der Erstling (noch als Ebay-Kopie) des heute so erfolgreichen Marktplatzes („Marketplace“).
Mit jener Öffnung des eigenen Online-Shops für Dritte gelang der Aufstieg zum größten Warenhaus der Welt. Den Umfang des Gesamtsortiments schätzt Kai Hudetz vom Institut für Handelsforschung auf über 280 Millionen Produkte. Besonders rasant wächst gerade die Mode. Laut einer Analyse der US-Bank Cowen soll der Umsatz des Segments im laufenden Jahr auf 52 Milliarden Dollar hochschnellen und Amazon an die Spitze des amerikanischen Textilhandels katapultieren. Nun macht sich Bezos an Medikamente und Autos.
Wie Marketplace war auch Prime zunächst eine kühne Wette. Als Bezos im Februar 2005 ankündigte, gegen eine Jahrespauschale jedes Paket innerhalb von zwei Tagen statt der üblichen Woche zuzustellen, schien das vielen Analysten der sichere Weg in die Pleite. „Wir sind immer bereit, missverstanden zu werden“, sagt Vice President Greg Greeley. Inzwischen gilt Prime als das erfolgreichste Kundenbindungsprogramm der Handelsgeschichte.
Schätzungen zufolge gehören über 70 Millionen Amazon-Fans zum Klub. Allein die Nutzungsgebühr spülte im Vorjahr rund sechs Milliarden Dollar in die Kassen, weit mehr, als Händler wie Macy’s, Home Depot oder Best Buy online erlösen. Und da die Premiumnutzer durchschnittlich bis zu achtmal mehr Geld bei Amazon ausgeben, tut der Konzern alles, um das Programm noch attraktiver zu machen.
Dabei ist Amazon längst zum Inhalteproduzenten geworden – weder Google noch den Telekomriesen ist das bisher gelungen. Gut zehn Jahre nach dem Start des Amazon-Videoverleihs mischt der Tech-Konzern nun sogar Hollywood auf.
1800 Kilometer südlich von Seattle schlägt die Stimmung gerade in Ekstase um. Gepäckbänder und Sicherheitsschleusen verwandeln das L. A. Convention Center in eine Flughafenkulisse. Schauspieler und Crew der Amazon-Erfolgsserie „Transparent“ versammeln sich um eine Holzkiste. „Box Meeting“ nennt Produzentin Jill Soloway das morgendliche Einpeitsch-Event. Erst zögernd, dann immer ergriffener springt einer nach dem anderen auf die Kiste, bedankt sich dafür, hier zu sein, verspricht, sein Bestes zu geben. Ein langer Tag bricht an. In zwölf Stunden Arbeit entstehen drei Minuten Material für die vierte Staffel.
Es ist noch nicht lange her, dass Fotografen Bezos auf einer Filmgala baten, doch bitte aus dem Bild zu gehen. Dieses Jahr saß er genüsslich im Publikum der Oscarverleihung und staubte seine ersten drei Trophäen ab.
Prime-Boss Greeley rechtfertigt den Aufwand: „Meine Aufgabe besteht darin, Prime so wertvoll zu machen, dass jeder mitmachen möchte.“ Amazon Video ist seit 2011 für Prime-Kunden kostenlos. Dass das Unternehmen damit kein Geld zu verdienen braucht, ist die große Gefahr für den Rivalen Netflix, der seinen Aktionären aus eigener Kraft eine Dividende zahlen muss.
Seit Kurzem muss auch der Musikstreamingdienst Spotify mitansehen, wie das Kerngeschäft als Prime-Beigabe (Amazon Music) verschleudert wird. In Deutschland hat sich Bezos jüngst die Audiorechte für die Fußballbundesliga gesichert.
Filme, Musik und Sport – das sind für Amazon erst einmal Verlustgeschäfte, dem Finanzmarkt nicht leicht zu erklären. „Wenn man nur an Quartalsergebnissen gemessen wird, ist es schwer, langfristig zu denken“, formuliert es CEO Wilke diplomatisch. Amazon liebt es förmlich, die Wall Street mit einem hohen Investitionsetat zu nerven. Zwar liefert der Konzern seit sieben Quartalen durchgehend schwarze Zahlen – im Vorjahr einen Gewinn von 2,4 Milliarden Dollar (plus 300 Prozent) —, aber da ginge wohl deutlich mehr. Allerdings lautet noch auf Jahrzehnte das eigentliche Ziel: Wachstum.
Nicht einmal die eigenen Mitarbeiter werden am finanziellen Erfolg gemessen. Der Schwerpunkt des ausgeklügelten Bewertungssystems liegt auf dem Ausbau des Sortiments, der Warenverfügbarkeit und der Versandgeschwindigkeit. Selbst bei Führungskräften hängen von den 141 vereinbarten Zielen nur 3 am erzielten Ertrag.
Neuentwicklungen beginnen, wo sie bei den meisten Unternehmen enden: mit einer Pressemitteilung. Zehn bis zwölf davon landen monatlich allein auf Wilkes Schreibtisch. Die Idee ist einfach: Es geht darum, den Kundennutzen präzise zu Papier zu bringen, bevor die Suche nach der Lösung beginnt. Das Schreiben soll der Analyse dienen, Präsentationsakrobatik ala Powerpoint ist ebenso verpönt wie der Griff zum Telefon. Bei Amazon geht alles per E-Mail.
Eine Forschungsabteilung gibt es nicht, Innovationen entstehen häufig in Teams, die gerade einmal so groß sind, dass sie von zwei Pizzen satt werden. Jeder Mitarbeiter soll Ideen liefern. Anreiz bildet die Aktienbeteiligung, ohne die bei Amazon niemand reich wird. CEO Wilke verdient bloß 175 000 Dollar im Jahr, Bezos nicht einmal die Hälfte. Doch allein die von Wilke derzeit gehaltenen Anteile sind 60 Millionen Dollar wert, die von Bezos 69 Milliarden Dollar. Und mit jeder neuen Verheißung, die den Kurs befeuert, kommt ein nettes Sümmchen dazu.
Auch deshalb wurde zusätzlich zu Prime der Turbolieferdienst Prime Now geschaffen. Der Startschuss fiel im August 2014.111 Tage später stellte Amazon in New York erstmals ein Päckchen innerhalb von zwei Stunden zu. Ein weiterer Sargnagel für den stationären Einzelhandel.
Wenn im Prime-Now-Lager der Schichtleiter „One hour!“ ruft, sammeln Mitarbeiter eilig Zahnbürsten, Steaks oder Fernseher aus den Regalen, die ein Bote via E-Bike oder Auto ausliefert. Eine verführerische Unmittelbarkeit, die perfekt zum Ondemand-Zeitgeist moderner Großstädter passt.
Ende vergangenen Jahres setzte Amazon noch einen drauf. Am 7. Dezember 2016 nahm ein Kunde im englischen Cambridge einen Amazon-TV-Stick nebst einer Tüte Popcorn in Empfang. Die Bestellung lieferte ihm eine Drohne — innerhalb von 13 Minuten. Science-Fiction? „Nein“, sagt Prime-Boss Greeley. „Das wird Realität.“ Man warte nur auf die amtlichen Genehmigungen.
Immer mehr, immer schneller und immer tiefer in die Wertschöpfungsketten hinein – das ist Amazon. Seit Anfang 2016 ein internes Strategiepapier auftauchte, in dem der Konzern unter dem Codenamen „Dragon Boat“ das Ziel formulierte, „eine globale Lieferkette“ aufzubauen und die Dienstleistungen an seine Handelspartner zu verkaufen, halten die Logistikgrößen FedEx, UPS und DHL die Luft an. Wenn der wichtigste Kunde zum größten Konkurrenten würde, wäre das der Beginn vom eigenen Niedergang.