Warschau. Am Dienstag vor einer Woche wurde in Brüssel ein Brief aus Warschau eingesehen. Die nationalkonservative Regierung Polens musste sich schriftlich verteidigen gegen den Vorwurf, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verletzen. Die EU-Kommission wirft Warschau unter anderem vor, das Verfassungsgericht faktisch außer Kraft gesetzt zu haben. Wie schon zweimal zuvor wird das Schreiben aus Warschau wohl wieder in allerletzter Minute eintreffen. Polen hat wenig Grund, zuvorkommende Eile an den Tag zu legen — und schon gar keinen, einzulenken. Im Gegenteil: Die Chancen, dass die von Jaroslaw Kaczyfiski kontrollierte Regierung auch bei diesem Mal trotz der schwerwiegenden Vorwürfe ungeschoren davonkommt, waren besser denn je. Es hat niemand in der EU ein Interesse daran, den Konflikt mit dem sechstgrößten Mitgliedstaat zuzuspitzen. Der Brexit, ein erneut drohender Grexit, ein irrlichternder US-Präsident und ein aggressiv auftretender Wladimir Putin in Moskau gefährden Europa. Hinzu kommen die nationalpopulistischen Bedrohungen in Frankreich und den Niederlanden.
Ein Indiz für die neue Nachgiebigkeit gegenüber Polen war der Besuch von Kanzlerin Angela Merkel vor zehn Tagen in Warschau. Das Treffen mit Kaczyfiski verlief so harmonisch, dass seine Berater schwärmten, zwischen den beiden stimme die „Chemie“. Die einzige Möglichkeit, Warschaus Fehlverhalten zu bestrafen, wäre, Polen gemäß Artikel 7 des LissabonVertrags in der EU das Stimmrecht im Rat zu entziehen. Doch für diese Option gibt es nicht die nötige Einstimmigkeit, Ungarn hat sein Veto angekündigt. Also wird die EU das mit großer Geste vor mehr als einem Jahr eingeleitete Rechtsstaatlichkeitsverfahren wohl unauffällig auslaufen lassen. Und Kaczyfiski wird nicht versäumen, dies als großen Sieg auszuschlachten. Sein Justizminister arbeitet bereits daran, auch die übrigen Gerichte der Regierung zu unterwerfen.