Pjöngjang. Immer vor Feiertagen lässt Nordkoreas Diktator Kim Jong Un es gern krachen. Kurz vor dem Geburtstag seines 2011 verstorbenen Vaters Kim Jong Il ließ er am Sonntag eine Mittelstreckenrakete vom Typ „Pukguksong-2″ abfeuern, die nach Angaben aus Pjöngjang mit einem nuklearen Sprengkopf bestückt werden kann. Der Versuch sei erfolgreich verlaufen, jubelten heimische Medien, der Führer habe alles selbst überwacht.
Wenige Tage später geriet Kim erneut in die Weltnachrichten, doch diesmal schwieg das Regime zunächst auffällig: In der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur starb Kims Halbbruder Jong Nam, 45, an den Folgen eines Giftanschlags, verübt angeblich von zwei jungen Frauen. Eine von ihnen trug ein fröhliches T-Shirt mit der Aufschrift „LOL“ — die Abkürzung für „Laughing Out Loud“. Nur ein Mann, so die naheliegende Vermutung, könne den filmreifen Mord befohlen haben: der Diktator in Pjöngjang.
Dass beide Ereignisse in so kurzer Folge abliefen, mag Zufall sein. Doch beide zeigen: Kim schert sich nicht darum, wie die Welt über ihn denkt. Indem er seine besorgniserregenden Fortschritte bei der Entwicklung von Raketen vorführte, forderte Kim vor allem den neuen US-Präsidenten Donald Trump heraus — und zwar genau in dem Moment, als dieser in Florida mit Japans Premier Shinzo Abe über die Gefahren beriet, die von der jüngsten Atommacht ausgehen.
Mit dem mutmaßlichen Attentat auf den Halbbruder fern der Heimat warnte Kim nun nicht nur potenzielle Widersacher. Er demütigte auch seinen Nachbarn China, der Jong Nam jahrelang Zuflucht gewährt hatte und ihn gerüchteweise als möglichen Ersatzherrscher in der Reserve hielt. Auf dem Flughafen von Kuala Lumpur wollte Jong Nam gerade für die Rückkehr nach Macau einchecken, wo er mit seiner Familie im Exil lebte.
Aber auch nach dem Attentat wiegen die geopolitischen Interessen der beteiligten Mächte schwerer als ein totes Mitglied der Familie Kim. Das gilt für die kommunistische Führung in China, die Nordkorea als Puffer gegen den proamerikanischen Süden braucht und trotz des zunehmend schwierigen Verhältnisses weiter mit Rohstoffen versorgt.
Das gilt für die Regierung in Seoul, die schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an einem Kollaps des Nordens hat. Und es gilt für die USA und deren Verbündeten Japan, die Kims Terror gern als Vorwand nehmen, um gegen China aufzurüsten.
Der inzwischen ermordete Jong Nam fürchtete seit Anfang 2012 um sein Leben: Damals bat er den angesehenen japanischen Journalisten Yoji Gomi, noch mit der Veröffentlichung von freimütigen E-Mails zu warten, die beide ausgetauscht hatten. Andernfalls könne das Regime dafür sorgen, „dass mir etwas zustößt“. Später soll er seinen Halbbruder, den Diktator, in Pjöngjang per Brief angefleht haben, ihn und seine Familie nicht zu töten.
Doch der Diktator kennt kein Erbarmen. Vermutlich trug er dem Halbbruder dessen Kritik nach, die dann in Japan eben doch als Buch erschien. „Wer in dieser Welt normal denkt“, schrieb Jong Nam, „kann eine dynastische Erbfolge in dritter Generation nicht billigen.“ Mit Sozialismus sei das nicht vereinbar. Nicht einmal Chinas einstiger Herrscher Mao Zedong sei auf so eine Idee gekommen. Der Halbbruder äußerte auch Zweifel, ob der junge Thronfolger das Format besitze, um die darbenden Untertanen zu regieren, schrieb aber, die beiden hätten einander nie persönlich getroffen. Er bezeichnete sich selbst als Befürworter von Reformen und einer Offnung nach chinesischem Vorbild. Dafür habe er sich auch beim Vater eingesetzt.
Tatsächlich war Jong Nam als ältester Sohn ursprünglich als Erbe der KimDynastie vorgesehen. Er stammte aus der Verbindung Kim Jong Ils mit der Filmschauspielerin Sung Hae Rim.