Paris. Royal Albert Hall, London, im Dezember 2016. Draußen steht etwas, das aussieht wie eine Sonne in der Nacht, ein Gitter, behängt mit Tausenden gelblich glitzernden Swarovski-Kristallen, gehalten von einem kreisrunden Stahlrahmen. Das tonnenschwere Objekt „Prologue“ des britischen Designerduos Fredrikson Stallard wurde nur für diesen Abend aufgebaut.
In der Royal Albert Hall werden die Fashion Awards verliehen, die wichtigste Auszeichnung der europäischen Modeszene. 4000 Celebritys aus aller Welt sind angereist, Popstars wie Lady Gaga, Lily Allen oder M.I.A., hippe Jungdesigner wie Molly Goddard oder Alessandro Michele, bewährte Senioritäten wie Jean Paul Gaultier oder Karl Lagerfeld, Comedians wie Amy Schumer oder Jack Whitehall, Models wie Gigi Hadid oder Karlie Kloss und Mäzene wie Nadja Swarovski.
Mittendrin die Gastgeberin: Natalie Massenet (51), Präsidentin des British Fashion Council, besser bekannt als Gründerin des Online-Luxusshoppingportals Net-A-Porter. Das Haar wie immer in der Mitte gescheitelt, Zufriedenes-Kätzchen- Lächeln, schneeweißes Federkleid — Massenet hat ihren ersten großen öffentlichen Auftritt nach dem Abschied von der eigenen Firma.
Die Erwartungen sind hoch. Im Vorfeld hatte die „New York Times“ von Massenets Ambitionen berichtet, die leicht angestaubte Londoner Veranstaltung zu einer „Antwort auf den Met Ball“ aufzupolieren, die wohl hochkarätigste Gala der Modewelt. Mit ihr hat „Vogue“-Chefin Anna Wintour (67) im Laufe der vergangenen Jahre 145 Millionen Dollar für die Modeabteilung des Metropolitan Museum of Art eingespielt.
Massenet strich dem British Fashion Award zunächst einmal das „British“ und verlegte die Preisverleihung vom Coliseum in die wesentlich größere Royal Albert Hall. Aus ihrer Sicht ging der Plan auf. „A Dream came true“, sagt sie sichtlich zufrieden am Ende der langen Nacht.
Natalie Massenet ist zurück. Monatelang war sie kaum zu sehen, erst recht nicht zu sprechen, seit sie im September 2015 Hals über Kopf das von ihr im Jahr 2000 gegründete Unternehmen verlassen hat: Net-A-Porter, das erste Luxusportal seiner
Art, eine Revolution in der Branche, mit der sich Massenet zur Stilikone aufschwang. Die Queen ernannte sie zum „Member of the Order of the British Empire“ (2009), das Magazin „Glamour“ kürte sie zur „Frau des Jahres“ (2013), „Time“ setzte sie auf die Liste der 100 Einflussreichsten der Welt (2014), sie war Gast bei den Obamas (2014), Prinz Charles erhob sie in den Adelsstand der „Dame“ (2016).
Warum also der überraschende Abgang? Seit Herbst 2015 spekuliert die Modeszene über die Hintergründe von Massenets Ausstieg aus der Firma, die sie erst an den RichemontKonzern (Cartier, Jaeger-LeCoultre, Montblanc) verkaufte und die dann mit dem Konkurrenten Yoox ver schmolzen wurde. Von Intrigen ist die Rede, Massenets ehemalige Partnerin Carmen Busquets (51) deutet gar an, das Ganze sei ein Fall für den Staatsanwalt.
Die neueste Wendung: Natalie Massenet soll als Beraterin bei Farfetch einsteigen, dem größten Rivalen von Yoox und Net-A-Porter. Das berichtete Mitte Dezember die „Daily Mail“. Von Massenet und Farfetch gibt es dazu keinen Kommentar. Das Spiel geht weiter. Natalie Massenet ist ein Kind des Modezirkus. Aufgewachsen in Paris und Los Angeles, die Mutter Model, der Vater Journalist. Bevor sie an der UCLA Literatur studierte, jobbte sie einen Sommer lang in einem Laden für Männerkleidung, zusammen mit einem ehrgeizigen jungen Musiker namens Lenny Kravitz. Später ging sie nach Tokio, um Japanisch zu 1ernen, jobbte als Model und arbeitete schließlich als freie Modejournalistin. Die „Vogue“ hatte sie abgelehnt, in London, wohin sie mit ihrem Mann zog, versuchte sie es beim „Tatler“, traf aber nicht den Geschmack der Chefredakteurin. Gründungsmythos Küchentisch Die Geschichte, wie sie Net-A-Porter erfand, erzählt sie gern so: Auf der Suche nach einem Stylingaccessoire sei ihr die Idee gekommen. Am heimischen Küchentisch im Nobelstadtteil Chelsea schrieb sie dann den Businessplan. Finanzbedarf: rund eine Million Pfund.
Die Hälfte erhielt sie über ihren Mann, den französischen Investmentbanker Arnaud Massenet (von dem sie seit 2011 geschieden ist), alle anderen winkten ab. Luxus und online — daran mochte keiner glauben. Einer der angefragten Start-upFinanziers reichte den Kontakt allerdings weiter an seine Freundin Carmen Busquets, die eine Boutique für die High-Society-Ladys in Caracas betrieb. Massenet war erst misstrauisch, ließ sich eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben, traf Busquets dann schließlich doch, im Pariser Hotel „Costes“. Die Dame aus Venezuela, unkonventionelles Outfit, Ohrgehänge und Dackel an der Leine, erklärte, sie glaube an die Idee. Ihre Kunden kauften oft ganze Outfits direkt von den Fotos weg, die sie von ihren Einkaufstouren in Mailand und Paris schickte. Massenet fabulierte von „kreativer Visualisierung“, Busquets von „Synchro-Schicksal“, 2000 ging Net-A-Porter online.
Die Seite wurde binnen 15 Jahren zu einem milliardenschweren Onlineportal. Und Massenet Besitzerin eines 28-Millionen-Dollar-Anwesens im Londoner Stadtteil South Kensington, eine der 50 teuersten Adressen des Landes. Die Clooneys, Rupert Murdoch, Jerry Hall und ein paar andere waren im vergangenen Jahr zu Gast, Spenden sammeln für Hillary Clinton.
Spätestens da war für alle klar: Das digitale Powerhouse der Luxuswelt engagiert sich auch politisch, unterstützt Frauen und kümmert sich um das Schicksal des Planeten. Vergangenen Herbst lud Massenet mit anderen zur Green Carpet Challenge, einer Initiative zur Nachhaltigkeit im Fashion-Business. Ihre Mitstreiterin der ersten Stunde, Carmen Busquets, geriet derweil mehr und mehr ins Abseits. Schon 2002 holte Net-A-Porter den Richemont-Konzern in den Eignerkreis, anders ließ sich das rasant wachsende, aber noch defizitäre Portal nicht finanzieren.
Noch mal acht Jahre später übernahm Richemont mit 93 Prozent vollends die Kontrolle. Busquets behielt 2,3 Prozent, auch Massenet und das Managementteam blieben weiterhin beteiligt. Der künftige Wert dieser Anteile sollte 2015 durch ein unabhängiges Schiedsverfahren und ein Put-Call-Agreement ermittelt werden. Busquets musste ihren Sitz im Net-A-Porter-Board räumen. Sie traf sich fortan nur noch heimlich mit Massenet, wie das Branchenmagazin „Business of Fashion“ berichtet, in das die Venezolanerin ebenfalls investiert ist.
Es kam zu Reibereien. Das Konzernmanagement kritisierte, Net-APorter verfehle die Geschäftsziele. Das Shoppingportal kam mit dem rasanten Wechsel der Kunden vom Computer zu Smartphones und Tablets kaum mit. Viele Nobelmarken bauten eigene Onlineplattformen auf, weil sie das Geschäft nicht mehr länger Net-A-Porter überlassen wollten. Zudem wurde der FashionPionier von neuen, smarten Konkurrenten angegriffen: Farfetch, Moda Operandi, Matchesfashion.com und vor allem Yoox, das Start-up von Federico Marchetti (47), einem weltoffenen, agilen Italiener mit einem MBA der Columbia University. 15 Minuten bis zum Heulkrampf Das Klima wurde immer rauer. Ab 2013 sollte Net-A-Porter plötzlich eine Konzernservicegebühr von zehn Millionen Pfund im Jahr zahlen – und die 100 Millionen Pfund Boni bilanzieren, die 2015 an Massenet und das Management ausbezahlt werden sollten. Der ehemalige Highflyer rutschte in die roten Zahlen, nicht zuletzt weil die Gewinne durch einen Bilanzierungsfehler zusätzlich geschmälert wurden.
Massenet hielt dagegen. Sie launchte die App Net Set Rir mobiles Shopping auf iPhone, iPad und Apple Watch, baute das Shoppingportal The Outnet für Ausverkaufs- ware auf und brachte das Printmagazin „Porter“ heraus. Im Februar 2015 berichtete sie auf dem Strategietreffen mit ihren Führungskräften von gut laufenden Geschäften.
Dann kam der Anruf. Finanzchef Gary Saage und CEO Richard Lepeu baten zum Sondermeeting nach Genf. 15 Minuten. Danach stand Massenet heulend auf der Straße und rief Carmen Busquets an: Man habe ihr eröffnet, dass ein Merger zwischen Federico Marchettis Yoox und Net-A-Porter ausgehandelt worden sei. Yoox würde Net-A-Porter für 950 Millionen Pfund kaufen, Richemont danach noch 50 Prozent an den zusammengelegten Unternehmen halten. Massenet sollte Präsidentin des Verwaltungsrats werden, Marchetti CEO.
Am gleichen Tag hatte Massenet ein Treffen mit den Investmentbankern von Morgan Stanley, die in ihrem Auftrag den Wert von Net-A-Porter taxieren sollten. Deren Schätzung: 1,8 Milliarden Pfund. Das Doppelte. Zu spät, beschieden ihr die Konzernvorstände, der Deal mit Marchetti war bereits festgezurrt, an dem Abkommen nicht mehr zu rütteln.
Frühinvestorin und Minderheitseignerin Carmen Busquets wandte sich umgehend an Richemonts Verwaltungsratspräsidenten Johann Rupert. Sie wollte wissen, wie der Konzern dazu komme, Net-A-Porter hinter dem Rücken der Gründerin und CEO und ohne transparentes Bieterverfahren zu verkaufen. Und wie überhaupt der Firmenwert taxiert worden sei? „It’s time the big boys take Over“, sagte Rupert während einer Konferenz, zu der Busquets zugeschaltet war.
Sie engagierte den Anwalt Lord David Gold, einen Spezialisten für Corporate Governance: „Man würde doch meinen, die Minderheitsaktionäre wären geschützt allein durch den Umstand, dass der Mehrheitsaktionär nicht im Traum daran denkt, unter dem höchstmöglichen Marktangebot zu verkaufen“, sagt Gold. Und vermutet, der Kaufpreis von 950 Millionen Pfund sei von Richemont selbst festgesetzt worden.
Wer hat wann mit wem gedealt? Die Lage ist undurchsichtig. Richemont äußert sich zu alldem nicht. Auch von Natalie Massenet kein Wort.
Definitiv als Gewinner vom Platz ging Yoox-Gründer Marchetti. Ihn katapultierte die Übernahme des deutlich prestigeträchtigeren Net-APorter „in die Poleposition, um das E-Commerce-Rennen zu gewinnen, das der gesamten Luxusindustrie die Hölle heißmacht“, so das Urteil von „Business of Fashion“.
Nach zähen Schlichtungsverhandlungen legte Richemont schließlich doch noch ein paar Hundert Millionen auf den Unternehmenswert draufund zahlte an die Kleinaktionäre nach. Massenet blieb nach der Übernahme zunächst an Bord. Marchetti nahm sich ein Büro in London und tönte in der „Financial Times“, es gebe nur einen Chef, und das sei er.
Im September 2015, kurz nach ihrem 50. Geburtstag, den sie mit Freunden und Familie in Positano feierte, gab Massenet dann ihren Rücktritt bekannt. Der Ausstieg und Verkauf ihrer restlichen Anteile inkluSive aller finanziellen Zutaten hat ihr laut Bloomberg noch einmal über 100 Millionen Pfund eingebracht.
Am Vorabend des Fashion Award empfängt sie zu einer exklusiven Party in einer Maisonette mitten im Londoner Stadtteil Belgravia. Hausherrin ist Lauren Santo Domingo, genannt LSD, die Co-Gründerin der Net-A-Porter-Konkurrenz Moda Operandi.
Massenet, schwarzes Spitzenkleid mit bunten Stickereien, ist umlagert von Models und Modegrößen. Sie macht sich gerade ein bisschen über den neben ihr stehenden Bestsellerautor und „Vanity Fair“-Kolumnisten Derek Blasberg lustig, der bereits als neuer Truman Capote gehandelt wird: „Ich glaube ja nicht, dass er so ein netter Kerl ist.“ Alle lachen. Sie plaudert mit der Mutter von TeslaGuru Elon Musk, die gar nicht mitbekommen hat, dass Massenet bei Net-A-Porter ausgestiegen ist. Spricht man sie auf ihre alte Firma an, beteuert sie, diese Phase hinter sich gelassen zu haben. Offenbart dann aber doch das „sehr eigenartige Gefühl, als wäre ein Kind, das man großgezogen hat, nun in einer ganz anderen Liaison, in der es zu einem anderen Wesen wird“.
In der Szene wird sie längst als heiße Kandidatin für einige ganz große Jobs gehandelt, etwa die Nachfolge von Anna Wintour bei der „Vogue“. Der hätte die in Paris und Los Angeles aufgewachsene Massenet voraus, dass sie beide Welten bestens kennt. Die Spekulationen lächelt sie weg und verrät nur sibyllinisch: „Es ist immer noch möglich, dass Dinge neu entstehen und sich erheben wie Phönix aus der Asche.“ Mit Natalie Massenet wird noch zu rechnen sein.