Leeds. Er wollte es wissen. Warum ging im zwanzigsten Jahrhundert die Welt unter? Warum endete die Zivilisation in einer Katastrophe, in der grausamsten Epoche der Menschheitsgeschichte? Warum dienten die wunderbaren Erfindungen nicht dem Fortschritt, sondern der Vernichtung? Wie großartig die zivilisierte Welt hätte werden können, mit freien Menschen in freien Gesellschaften. Doch in zwei Weltkriegen verwandelte sich die aufgeklärte Moderne in die Hölle auf Erden. Warum?
Der Soziologe Zygmunt Bauman hat dem, was man pathetisch »die Moderne« nennt, nie getraut. Er wollte wissen, wie Modernität und Barbarei ineinander verstrickt sind, warum Vernunft und Gewalt auftreten wie teuflische Zwillinge. Ist es die Rationalität selbst, die das Ungeheuer der Gewalt gebiert? Sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse? Oder ist die Vernunft nur eine täuschende Oberfläche, die den Abgrund des ontologisch Bösen verdeckt?
Bauman wusste, wovon er sprach. 1925 in Posen geboren, floh seine jüdische Familie nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen in die Sowjetunion. Von 1944 bis 1953 diente er bei der Roten Armee und machte im kommunistischen Nach aus der Kommunistischen Partei aus und verlor nach einer antisemitischen Kampagne seine Professur. Mit seiner Familie emigrierte Bauman ein Jahr später nach Israel. Dort empörte ihn die Behandlung der Palästinenser; er verließ das Land wieder und zog ins britische Leeds, wo jene Werke entstanden, die seinen Weltruhm begründeten. Es verstand sich für Bauman von selbst, den Holocaust ins Zentrum seines Denkens zu stellen, an diesem Menschheitsverbrechen musste sich zeigen, ob seine Behauptungen über »Modernität und Barbarei« Bestand hatten. Tatsächlich waren sie eine wissenschaftliche Provokation. Bauman deutete die Judenvernichtung als ein GroßverbreChen, das die unhintergehbare Ambivalenz der Moderne enthüllt, die Dialektik ihrer Ordnung. Die bürokratische, von allen ethischen Ziele gereinigte Vernunft liquidiert das Humane und hasst, was ihr nicht gleicht; sie tötet, säubert, beseitigt, sie ist kalt, sachlich, effizient und bleibt dabei immer »vernünftig«. In dieser rationalen Destruktivität des Nationalsozialismus sah Bauman das historisch Neue, und wie für Adorno und Horkheimer war der von den Deutschen exekutierte Holocaust keine Entgleisung, keine Fehlentwicklung und kein Zivilisationsbruch. Die »Endlösung« war das »Ergebnis der bürokratischen Kultur. Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar. Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht ihn möglich.«
Baumans Schlüsselwort hieß Adiaphorisierung. Damit meinte er, dass Technologien den Menschen moralisch gleichgültig machen, ihn abstumpfen und desensibilisieren. Sobald die Vernunft nur noch eine technologische ist, ein reiner amoralischer Selbstzweck, gebe es keinen Grund, andere Menschen nicht zu_wertlosen Gegenständen zu erklären. Wenn Technologien sich verselbstständigen, werden sie zu Agenten der ethischen Neutralisierung. Sie verdecken das Antlitz des Menschen, sie verhindern die Unmittelbarkeit von Erfahrung und betäuben die »instinktive Abwehr grundloser Gewalt«. Das gilt heute immer noch, und zu Recht hat der mittlerweile verstorbene Soziologe Ulrich Beck in seiner Laudatio auf Zygmunt Bauman daran erinnert, dass in der barbarischen Gewalt des IS die ungeheuere Ambivalenz der Moderne noch einmal zum Vorschein kommt — jene rationale Destruktivität, bei der archaischer Fanatismus und hypermoderne Technik eine mörderische Verbindung eingehen.
Natürlich handelte sich Bauman den Vorwurf ein, er lasse an der Aufklärung kein gutes Haar und betreibe negative Geschichtsphilosophie. In Wahrheit aber wollte Bauman sich auf nichts verlassen — nicht auf die unsichtbare Hand des Marktes, nicht auf den angeblichen Selbstlauf der Systeme oder das Faktum der Vernunft. Wer nach positiven Möglichkeiten suche, der müsse die Ambivalenzen sondieren und — paradox gesagt — die Gesellschaft mit größtmöglichem Abstand aus größtmöglicher Nähe beschreiben. »Will man an der Welt arbeiten (statt selbst bearbeitet zu werden), muss man wissen, wie sie funktioniert.«
Es waren diese Analysen, die Bauman berühmt machten, und zwar weit über die geschlossene Gesellschaft seiner akademischen Welt hinaus. Anders als viele seiner Kollegen wollte er in der Gegenwart einen radikalen Bruch erkennen, einen Bruch zwischen der alten, »panoptischen« Kontrollmoderne und einer neuen, einer flüchtigen und flüssigen Postmoderne. Tatsächlich empfand Bauman die Verbindung aus Neoliberalismus und Digitalisierung als wahrhaft revolutionär, in seinen Augen veränderte sie alles. Denn während die Bürger in der Kontrollmoderne wie Figuren in einem Wachsfigurenkabinett vor dem Auge der Macht stramm stehen mussten, ist in der liquiden Moderne die Macht weitgehend unsichtbar. Sie ist fluide und durchlässig, sie kommandiert nicht mehr — und durchdringt doch »kapillarisch< die winzigsten Zellen des sozialen Gewebes«.
Die »neue Macht«, der Bauman ein eigenes Buch widmete, tritt dem Einzelnen nicht mehr als bürokratischer Apparat gegenüber, sondern gewährt ihm alle erdenklichen Freiheiten. Das postmoderne Regime der Manager füllt die vakant gewordenen Kontrollräume mit Spontaneität, und nun müssen alle kreativ sein, flexibel und gut gelaunt sowieso — das »Ein-Personen-Minipanoptikum«, das Smart-Phone, stehe dem Einzelnen dabei hilfreich zur Seite. In einem »experimentellen Prozess der Selbstfindung« und mit prinzipienfester Treulosigkeit, so Bauman, müssten sich die Bürger nun selbst vergesellschaften und wie durch Zauberhand immer das tun, was der Markt von ihnen verlange. Damit verwandeln sich die äußeren Zwänge in innere, und die glorreiche Geschichte der Emanzipation gelangt an ihr Ende. »Folgsamkeit gegenüber vorgegebenen Standards wird heute eher durch Verlockung und Verführung als durch Zwang erreicht — und das Ganze erscheint im Gewand des freien Willens.«
Gewiss, es gibt neue Freiheiten, aber diese Freiheiten waren für Bauman hochgradig ambivalent. Sie erzeugen Ungewissheit, sie wecken die Nachtgespenster der »Versagensangst« und führen zu einer »Agonie des Unentschiedenen«: Die Gegenwart ist ein Container voll mit ungenutzten und vor allem unlebbaren Möglichkeiten. »Ziehen sich die Truppen der normativen Regulation vom Schlachtfeld zurück, bleiben Angst und Zweifel zurück.« Sinnlos, von einer »Wiedereinbettung der Bürger« in die Gemeinschaft zu träumen. Man könne es ja versuchen, es stünden genügend »Schlafsäcke und Analytikersofas zur Verfügung«. Die neue Gemeinschaft bleibe »ein artifizielles Randphänomen im endlosen Spiel der Individualität«.
Dasselbe behauptet Bauman auch für die Politik, denn die liquid modernity verflüssigt die Einheit aus Regierung und politischer Macht. Zwar gibt es für nationale Regierungen noch genug zu entscheiden, doch ihr Wirkungsbereich schrumpft gewaltig. Die Macht wandert in den supranationalen Raum aus und verbündet sich dort mit global agierenden Konzernen, die die Staaten in einen ruinösen Steuerwettbewerb treiben — Sieger ist, wer gar nichts zahlt. Zuletzt, so Bauman, verschwinde in der postmodernen Moderne auch noch der Sinn aus der Geschichte, und die Gegenwart dehne sich endlos und ohne Ziel. »Es schwindet der Glaube an ein Ende des Wegs, der Glaube an eine gute und gerechte Gesellschaft.« Der Rest ist alte Moderne, ihre obsessive Ruhe- und Rastlosigkeit, »das überwältigende und unauslöschliche, nie zustillende Streben nach kreativer Zerstörung«. Und die Ironie der Geschichte? Während der Einzelne das Gefühl habe, überflüssig zu sein, arbeiten die Biowissenschaften an der Unsterblichkeit des Menschen.
Von einem »Interregnum« sprach Bauman, von einer Zwischenzeit, in der alte Ordnungen verschwinden, ohne dass schon neue in Sicht wären. Die westliche Lebensweise hat sich auf der ganzen Welt ausgebreitet, und die Flüchtlinge sind die heimatlosen Gestalten dieser entgrenzten Moderne, in denen wir unser eigenes Schicksal erkennen. »Und so leben wir heute oft in einer wiederauferstandenen hobbesschen Welt des Kriegs aller gegen alle.«
Und doch: Selbst wenn im Flüssigen auf nichts Festes mehr Verlass ist, so gab es für Bauman keinen Zweifel, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen. Über eine quälend lange Zeit zwang die Moderne die Welt dazu, anders zu sein, als sie ist; die Dinge mussten sich entweder verändern oder gefälligst von der Bühne verschwinden. Dasselbe, so konnte man Bauman verstehen, gelte nun für die Moderne selbst: Sie müsse sich dazu zwingen, anders zu werden und ihrer eigenen Endlichkeit ins Auge sehen. Das klingt so, als habe Bauman insgeheim auf ein Gattungsbewusstsein vertraut — auf ein Kollektivsubjekt, das sich, einmal aus seinem metaphysischen Schlummer erwacht und den Abgrund vor Augen, am Ende doch für den richtigen Weg entscheidet. Es war dieser Satz von Max Frisch, den Bauman auf rührende Weise unbeirrt einem Aufsatz über den Strukturwandel der Gewalt voranstellte: »Wir können, was wir wollen, und es fragt sich nur noch, was wir wollen; am Ende unseres Fortschritts stehen wir da, wo Adam und Eva gestanden haben; es bleibt uns nur noch die sittliche Frage.« Vor wenigen Wochen ist der jüdische Kosmopolit Zygmunt Bauman im Alter von 91 Jahren in Leeds gestorben.