Brüssel. Unheil lag in der Luft, doch kaum jemand nahm es ernst. Schon seit einigen Jahren waren die Gegner der offenen Weltordnung dabei, eine neue globalisierungskritische Sicht zu verbreiten, in deren Zentrum die Nationen standen. Protektionismus und Abschottung sollten die Zumutungen der Moderne lindern.
Auch die Weltpolitik war im Umbruch. Die westliche Supermacht Großbritannien wurde herausgefordert von einer neuen, autoritär geführten Großmacht im Osten, dem Deutschen Reich, das massiv aufrüstete. Die Kriegssignale waren seit Langem erkennbar gewesen. Dennoch kam der große Knall überraschend: Als Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, hielten ihn die aufgeklärten Geister jener Zeit für einen Unfall – für ein Intermezzo im ansonsten unaufhaltsamen Prozess der internationalen Integration.
Tatsächlich dauerte der Krieg über vier Jahre und kostete Millionen das Leben. Und es brauchte weitere 70 Jahre, bis abermals eine offene Weltordnung entstand und der internationale Handel mit Gütern, Firmen und Kapital neuen Schwung aufnahm.
Bei Kriegsende 1918 hatte zunächst eine ganz andere Epoche begonnen. Die erste Globalisierung des späten 19. Jahrhunderts war unwiederbringlich vorbei. John Maynard Keynes war das zu einem sehr frühen Zeitpunkt klar. Der britische Ökonom schaute bereits 1919 auf die Vorkriegszeit zurück mit einer Mischung aus Verwunderung und Wehmut. „Welch außergewöhnliche Episode des ökonomischen Fortschritts“ die Jahrzehnte vor Kriegsausbruch doch gewesen seien, schwärmte er in seiner Schrift „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens“. Das bürgerliche Leben sei mit „Bequemlichkeit, Komfort und Annehmlichkeiten“ in einem Maße gesegnet gewesen, wie es den „reichsten und mächtigsten Monarchen anderer Zeitalter“ nicht vergönnt gewesen sei. Allerdings hätten dieser Wohlstand und Frieden auf sehr speziellen und fragilen Bedingungen gefußt. Nichts, auf das man hätte bauen können.
Nichtsdestotrotz vertrauten Bürger, Staatenlenker und Unternehmer 1914 fast schlafwandlerisch darauf, dass es immer so weitergehen würde. Sie hätten es besser wissen müssen. Die Geschichte ist durchzogen von schweren Rückschlägen. Phasen ökonomischer und gesellschaftlicher Offenheit münden immer irgendwann in einer Ära der Abschottung, Unordnung und Instabilität und, wenn’s ganz schlecht läuft, der Gewalt.
Es gibt keinen Automatismus hin zu Fortschritt, Frieden und Wohlstand. Allerdings muss auch nicht notwendigerweise ein Abgleiten in Krieg und Chaos folgen. Im besten Fall macht die Geschichte nur eine Pause, verharrt auf einem Sattelpunkt und nimmt dann Anlauf zu neuen Höhen.
Der Zusammenbruch der liberalen Weltordnung des späten 19. Jahrhunderts zu Kriegsbeginn war keineswegs der erste Umschwung dieser Art. Harold James, Historiker in Princeton, hat diverse frühere Phasen der Öffnung identifiziert, die alle irgendwann ein Ende fanden. Jedes Mal wurde die Integration mit schmerzhaften Konsequenzen zurückgedreht.
Die wichtige Frage ist, wo wir uns derzeit im Globalisierungszyklus befinden: an einem Sattelpunkt, wo Protektionismus, Populismus und Autoritarismus den unaufhaltsamen Fortschritt lediglich eine Zeit lang bremsen – oder an einem Wendepunkt, der den Beginn einer Periode der Desintegration und Aggression markiert.
Wieder einmal liegt Unheil in der Luft. Die offenen Gesellschaften der entwickelten Welt sind dabei, ihre Freiheit, Sicherheit und ihren Wohlstand aufs Spiel zu setzen. Während die autoritär geführten Großmächte China und Russland die internationale Agenda bestimmen, erodiert der Westen in einem Tempo, wie es noch vor einem Jahr unvorstellbar gewesen wäre. Amerika igelt sich ein, Europa zerfällt.
In den ältesten Demokratien der Welt gewinnen Populisten Mehrheiten: Donald Trump in den USA, die Brexiteers in Großbritannien, demnächst womöglich Geert Wilders in den Niederlanden und Marie Le Pen in Frankreich. Figuren, die den globalen Herausforderungen einen Nationalismus entgegensetzen, der in alternden Gesellschaften gut ankommen mag, der aber sein nostalgisches Versprechen von der Rückkehr zu einer über schaubareren, einfacheren Welt nicht wird einlösen können. Er riskiert vielmehr den Lebensstandard ganzer Generationen.
Es sind nicht allein die Populisten, die den Kurs des Westens verschieben. Es ist auch die Reaktion darauf: Weite Teile des liberalen Establishments scheinen sich geschlagen zu geben. Die etablierte Politik rückt nach rechts und würzt ihre Rhetorik mit scharfen nationalen Noten. Die Medien greifen Tabubrüche und rhetorische Ausfälle bereitwillig auf. Die Wirtschaft duckt sich weg und meidet die Auseinandersetzung.
Wo sind die Topmanager und Unternehmer, die Verbandspräsidenten und Gewerkschaftsführer, die mit starken Argumenten für Globalisierung, Offenheit und europäische Integration in die Debatte ziehen? Warum kämpft kaum jemand offensiv für die Ordnung, der wir unser Selbstverständnis und unseren ökonomischen Erfolg zu verdanken haben? Was bleibt von Deutschland, wenn kaum noch Zuwanderer ins Land kommen, die EU und der Euro zerfallen sind und rund um den Globus wieder die Schlagbäume niedergehen?
Wir sind schon so weit gekommen, dass die Populisten im In- und Ausland maßgeblich unsere politische Agenda bestimmen. Angela Merkel wird im Wahljahr 2017 erheblich unter Druck aus den eigenen Reihen geraten. Dass ausgerechnet die dröge, besonnene Kanzlerin zum Hassobjekt der neuen Rechten geworden ist, offenbart die ganze Dramatik der Verschiebungen des politischen Spektrums. Und dass kaum noch jemand öffentlich für freiheitliche Positionen streitet, belegt, wie defätistisch wir geworden sind. Die liberalen Eliten, die die Globalisierung und die europäische Integration vorangetrieben haben, sind still geworden.
Wer schweigt, gibt sich geschlagen. Politik entscheidet sich längst nicht mehr in Lobbys und Hinterzimmern, sondern in der öffentlichen Arena. Und dort geht es rauer zu als früher. Social Media geben das Tempo vor. Traditionelle Medien fungieren oft nur als Verstärker. Laute Zuspitzung und halbstarke Sprüche sind wirkungsvoller als wohlabgewogene Argumente. Empörungswellen, Lärmspiralen und Shitstorms bewegen die Debatte. Ein Getöse, bei dem differenziertere, abgewogene Stimmen leicht untergehen. Und doch: Wer sich nicht einmischt, der überlässt den Gegnern der offenen Gesellschaft das Feld. Wer nicht streitet, wird verlieren.
Die Befürworter der globalisierten Marktwirtschaft brauchen sich nicht zu verstecken. Denn die Resultate der vergangenen Jahrzehnte können sich sehen lassen: Die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen haben sich drastisch verbessert. Immer weniger hungern, die Lebenserwartung hat sich deutlich erhöht.
Ja, die Verteilung der Einkommen und Vermögen in den etablierten Volkswirtschaften ist ungleicher geworden. Aber es gibt auch Vorbildstaaten, die effektiv umverteilen, sodass jeder eine Chance auf Bildung und Wohlstand hat. Dass im Westen gegenwärtig zu wenig in produktive Kapazitäten investiert und zu viel an Finanzmärkten gezockt wird, liegt weniger an der Globalisierung. Verantwortlich dafür sind das viele billige Notenbankgeld und falsche Steueranreize.
Die Debatte sollte sich darauf fokussieren, was funktioniert – und was nicht. Was nachhaltig den Wohlstand für den größtmöglichen Teil der Gesellschaft steigert und was nicht. Das wäre die beste Strategie gegen die Populisten, die genau diese Differenzierung schuldig bleiben und auf radikal vereinfachte Welterklärungen und Schuldzuweisungen setzen.
Eines ist ganz klar: Die Rückkehr zu nationalen Lösungen wird nicht funktionieren. Die Welt ist so dicht besiedelt, so intensiv genutzt und so eng verflochten wie nie zuvor. Probleme machen nicht an Staatsgrenzen halt. Uns bleiben zwei Optionen: Entweder wir lösen kollektive Probleme gemeinsam, vertiefen die internationale Arbeitsteilung weiter und verbessern die globale Governance. Oder wir reiben uns in Konflikten auf, drehen die Arbeitsteilung zurück und lassen uns von Klimawandel, Überbevölkerung und Atomwaffen beherrschen.
Der neue Nationalpopulismus konfrontiert uns mit einer eindeutigen Alternative: Kooperation oder Konflikt, Wohlstand oder Verarmung, Freiheit oder Repression. Da fällt die Antwort leicht.
Zumal die Zerstörungskräfte, die der nächste Tiefpunkt des Globalisierungszyklus auszulösen droht, viel mächtiger sind als in früheren Epochen. Es werde häufig angenommen, dass die ökonomische Globalisierung Frieden schaffe, da nur in einer friedlichen Welt Handel und der Austausch von Ideen wirklich florieren könnten, beobachtet der britische Historiker James. Aber in der Praxis führe sie oft auch zu einer Globalisierung der Gewalt. Wir sollten es nicht so weit kommen lassen.