Berlin. Im Nachhinein hat es auch etwas Gespenstisches. Mit welcher Ruhe die Reporter in jener Nacht in ihre Mikrofone sprachen, wie sie unermüdlich wiederholten, dass am Tatort und auf den Straßen alles geregelt zugehe. Wie freundlich sich die Polizei zu späterer Stunde bei der Öffentlichkeit für ihre Mithilfe bedankte (mehr über das Versagen von Behörden lesen). Und wie verständnisvoll ebendiese Öffentlichkeit sich bis zur Pressekonferenz am nächsten Tag geduldete, um Näheres zu erfahren. Ganz so, als hätte sie gar keine Eile zu hören, dass dies wirklich das war, wonach es aussah: der erste große Terroranschlag in Deutschland (mehr über den Anschlag lesen).
Auffällig oft, vielleicht ein bisschen zu oft, ist seit dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz fast schon stolz bemerkt worden, wie besonnen, ja geradezu gelassen die deutsche Bevölkerung auf das Attentat, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, reagiert habe. Und es stimmt: Während das Ereignis abgewickelt wurde (Lkw abtransportiert, Gedenkgottesdienst gehalten, Attentäter er schossen), blieben die Menschen still und gefasst in ihren Wohnzimmern sitzen, sie gingen abends schlafen und am nächsten Tag wieder vor die Tür, sie fuhren U-Bahn wie immer und betraten ihre Büros und Supermärkte. Sie feierten Weihnachten und Silvester. Keine Hysterie! Denn Hysterie sei ja, was die Terroristen wollten — das war die Formel, die jedes andere Verhalten bereits im Vorhinein als unangemessen diskreditierte.
War dies eine bewusste Reaktion? Die stoische Ruhe der Deutschen könnte auch intuitiv gewählt worden sein. Sie war etwas, was einem unbewussten Pakt gleichkommt, von dem die Menschen, die ihn miteinander schlossen, gar nichts gewusst hatten, bis der Ernstfall eintrat. »Wenn es passiert, bleiben wir ruhig«, viele haben sich mit dieser unwahrscheinlichen Einstellung seit der Nacht des Anschlags wohl selbst überrascht.
Knapp zwei Wochen nach dem Jahreswechsel, und damit nur drei Wochen nach dem Attentat, schien es deshalb umso irritierender, als sich mit scharfen Worten aus Berlin eine bislang ungehörte Stimme an die Öffentlichkeit wandte. »Traurig und unwürdig« nannte Petra K. am vergangenen Wochenende im Berliner Tagesspiegel die aus ihrer Sicht »mangelnde Beachtung vonseiten des Staates«, die den Opfern des Berliner Attentates zuteilwurde. »Der Bundestag war nicht mal zur Unterbrechung der Weihnachtspause für eine Schweigeminute bereit«, so Petra K. (wie sie der Tagesspiegel nennt). Und: »Politiker erklären ständig, dass man jetzt schnell zur Normalität übergehen sollte. Aber für uns wird es eine solche Normalität nie wieder geben.« K. ist Angehörige eines Opfers vom Breitscheidplatz, ihr Lebensgefährte liegt seit Wochen im Krankenhaus und kämpft mit dem Tod.
Eine Frau und ihr lebensgefährlich verletzter Mann sind zwei von vielen, von denen bislang niemand etwas gehört hat. Warum eigentlich nicht? Ist es nicht in der Tat auffällig, wie bescheiden, nahezu verdruckst mit den Opfern des Terroranschlags umgegangen wird? Die Bundeskanzlerin beließ es bei einem Presse-Statement und dem Gedenkgottesdienst, den sie zusammen mit dem Bundespräsidenten besuchte. Es brauchte erst die bittere Enttäuschung der Angehörigen, bis im Berliner Abgeordnetenhaus eine Gedenkminute und eine Rede angekündigt wurden. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert reagierte auf die Kritik und plant, in der nächsten Sitzungswoche des Bundestages zum Gedenken zu sprechen.
Aber war es wirklich nur der Staat, der sich bis zu diesem Zeitpunkt unfähig zeigte, zu trauern?
»Nad’a Cihmårovå hat leidenschaftlich gern gestrickt«, so schrieb die New York Times in einem Kurzporträt über ein Opfer des Anschlages von Berlin. Die Zeitung hatte Hinterbliebene aufgesucht, die über ihre verstorbenen Familien angehörigen erzählten. Je ein Foto der Opfer stand neben diesen anekdotischen Texten. Auch in deutschen Medien kursierten die Namen und Bilder der ausländischen Opfer. Von den deutschen Toten hingegen war kaum die Rede. Von wenigen und wenig beachteten Ausnahmen abgesehen, konzentrierte sich die Berichterstattung nicht auf die Opfer, sondern den Täter.
Fehlten die Bilder? War eine zertrümmerte Frontscheibe als Reiz zu schwach?
Sein Gesicht war überall: Anis Amri, 24 Jahre alt, tief liegende Augen, breite Lippen, dunkles Haar. Man sah Aufnahmen seiner Familie, der Geschwister und seiner Mutter, im Haus in Tunesien, in einem gekachelten Wohnzimmer fassungslos um sein gerahmtes Bild geschart. Ihre Blicke waren beschämt zu Boden gerichtet, die Körper zusammengesunken, gekrümmt vor Schmerz. Das Leid von Amris Familie konnte jeder sehen, sein Heimatort wurde bereist, seine Radikalisierung und seine Flucht bis ins Detail nachvollzogen. Von seinen Opfern hingegen fehlte jede Spur. Die Namen der Menschen, die in Berlin zu Tode kamen, waren nicht vernehmbar. Nicht einmal vage Beschreibungen von ihnen sind im Umlauf, kein »zweifacher Familienvater«, keine »junge Touristin aus Bay ern«, kein »frisch verlobtes Pärchen«, sondern nur »zwölf Personen«. Anders als etwa bei den Pariser Anschlägen erzählten die deutschen Medien kaum persönliche Geschichten der Opfer. Es gab keine prominenten Bilder von Politikern am Krankenbett der Verletzten, keine großen Reportagen führten in die Heimatorte der Opfer, und niemand interviewte ihre Kollegen und Freunde (auch die ZEIT nicht). Vor allem aber gab es, wie Petra K. den Politikern vorwarf, keinen Staatsakt für sie: »In anderen Ländern ist das selbstverständlich.«
Ist es zu früh zum Gedenken? Brauchten die Menschen erst einmal die Weihnachtspause, um zu sich zu kommen? Oder ist es jetzt schon zu spät, nach dem Fest, zwischen Christbaumgerippen am Straßenrand, Warnungen vor überfrierender Nässe und Facebook-Diskussionen über Gina-Lisa Lohfink im Dschungelcamp?
Es kann auch als Zeichen des Respekts interpretiert werden, trauernde Familien in Ruhe zu lassen. Es mag auch pietätvolle Zurückhaltung sein, die die Politiker und Medien wochenlang davon abhielt, sich den Opfern öffentlich stärker zu widmen. Vielleicht spielt es für die Berliner Politik auch eine Rolle, sich nicht dem Vorwurf der Instrumentalisierung aussetzen zu wollen oder gar der Förderung rassistischer Vorurteile. Statt sich Schicksalen zu widmen, konzentriert man sich lieber auf sicherheitspolitische Maßnahmen, nicht zuletzt sie werden den Ausgang der Wahl beeinflussen.
Oder hat das vergangene Jahr so etwas wie eine Überstrapazierung der Emotionen hinterlassen? Schock und Empathie — davon gab es 2016 so viel, dass für die letzten Tage des alten und die ersten Tagen des neuen Jahres vielleicht nichts mehr übrig war. Oder fehlten, zynischer gedacht, beim Berliner Anschlag die schockie renden Bewegtbilder wie die des unerbittlich über die Promenade bretternden Lkw in Nizza? War das Foto einer zertrümmerten Frontscheibe als Reiz zu schwach? Oder brettert, andersherum, seit dem Sommer 2016 vielleicht unablässig ein Lkw durch die Köpfe, sodass die Nachricht eines tatsächlich Menschen unter sich begrabenden Wagens kaum mehr zu verarbeiten ist?
Man könnte den Terror von Berlin als ein Nicht-Ereignis begreifen. Eines, das spätestens seit dem Amoklauf in München im vergangenen Jahr schon so oft kollektiv vorgefühlt und emotional durchlebt wurde, dass es, als es plötzlich real wurde, nicht mehr als real empfunden werden konnte.
Der Reflex, sich zumindest unterbewusst durch gewissermaßen vorauseilendes Verdrängen gegen die grausame nahe Zukunft zu schützen (»bald passiert auch bei uns etwas«), mag durchaus gesund und vernünftig gewesen sein. In München hatten die zunächst unklaren Geschehnisse gezeigt, wie ungut Panik, Paranoia, schnelle Mutmaßungen und Hysterie in einer Stadt, die vom Terror getroffen wird, wirken können. »Wenn es passiert, bleiben wir ruhig« — vielleicht wurde der Pakt genau zu diesem Zeitpunkt geschlossen. Gedenkrituale für Terroropfer gibt es bislang in Deutschland nicht Doch was ist mit den Toten? Wie viel Empathie lässt eine solche Abgeklärtheit zu? Für die Opfer scheint es vor lauter Gefasstheit wenig Platz zu geben. Es muss nicht Gleichgültigkeit sein, es kann auch Ratlosigkeit sein, die größere Gesten des Gedenkens bislang verhindert hat. Eine gemeinsame Sprache, geschweige denn Rituale für diejenigen, die nicht durch Naturkatastrophen oder Krankheiten, bei Unfällen oder im Kriegsgebiet starben, gibt es bisher nicht.
Undenkbar, der Opfer patriotisch wie in den USA zu gedenken. Undenkbar, dass der Staatspräsident öffentlich über die Opfer wie über Helden spricht, als hätten sie ihr Leben freiwillig für die Republik gegeben, wie es Franqois Hollande in Paris tat. Undenkbar auch ein pompöses Begräbnis wie das des Lkw-Fahrers in Polen, der vom Attentäter erschossen wurde.
Was also dann? Wie gedenkt man auf Deutsch der »Opfer des Terrors«?
Wo das erinnerungspolitische Besteck der Vergangenheit — Ehrenmal, Gefallenenmythos, Vaterlandskult — abschreckt oder längst musealisiert ist, herrscht Sprachlosigkeit. Ein Land, zu dessen Selbstverständnis es seit Generationen gehört, ein Tätervolk zu sein, kennt Erinnern nur als Mahnen. Als Informiert werden durch Audioguides und Geschichtsbücher, als nie ganz unschuldiges Trauern an Orten nachdenklicher Erinnerung. Das Denken an die Opfer fiel stets zusammen mit dem Wissen, auch die Täter in den eigenen Reihen zu finden. Die Toten von Berlin brechen mit diesem Schema. Wenn sich die Angehörigen nun fragen, wo die Trauer bleibt, ist das nicht nur die Klage über etwas, das ausgeblieben ist und nicht mehr kommen kann. Es ist vielmehr der Beginn einer neuen Epoche deutscher Erinnerungskultur.