New York. Der schlimmste Feind des Narwals ist nicht der Mensch, sondern der Schwertwal. Auf Jagd sammeln sich die als Orcas bekannten Säuger in Truppen und kreisen ihre Beute ein. In einem dokumentierten Fall im Jahr 2014 trieb eine Orca-Gruppe eine Herde von 50 Narwalen in das flache Wasser vor der kanadischen Küste, 20 schwarze Schwert flossen sind auf den Filmaufnahmen zu sehen. Dann stoßen die Orcas hinab, das Wasser färbt sich scharlachrot.
Den Narwalen stand an jenem Tag an jenem Ort keiner der zwei Fluchtwege offen, die ihnen sonst das Leben retten können. Denn im Normalfall fliehen sie entweder in große Tiefen, oder sie retten sich unter den Eisschild der Arktis. Während sie im flachen Wasser ihren Jägern nichts entgegenzusetzen haben, sind sie im Schutzraum unter der nördlichen Polkappe vor den Orcas sicher. Im Sommer, wenn große Teile des Eises geschmolzen sind, verstecken sich die Narwale in jenen Küstengebieten, wo sie direkten Zugang zu tiefen Gewässern haben. Sie ziehen ihre Jungen auf, sind vor Stürmen geschützt. Und nähert sich ein Feind, gehen sie auf Tauchstation.
Die Wehrlosigkeit des bizarren Meeressäugers im Nahkampf überrascht. Doch das bis zu drei Meter lange Horn, das der Narwal wie einen gefährlichen Säbel majestätisch vor sich herschiebt, ist keine Waffe, mit der er sich gegen Feinde wie den Orca zur Wehr setzen könnte. Alle Männchen und 15 Prozent der Weibchen besitzen das Horn, bei dem es sich in Wahrheit um den linken Schneidezahn handelt. Der ragt horizontal nach vorne durch die Oberlippe; in seltenen Fällen wird er vom rechten Schneidezahn sekundiert, der sonst ein Leben lang im Zahnfleisch des Wals eingebettet bleibt. Weitere Zähne besitzt der Narwal nicht. Aber der schmucke Stachel hat ihn berühmt gemacht.
Diese dentale Auffälligkeit inspirierte die Menschen: Ihr verdanken wir, dass Pferde als Einhörner die Fabelwelt bereichern. Umgekehrt verfügen wir über erstaunlich wenig reales Wissen zum Einhorn der Meere. Vor wenigen Wochen jedoch konnten Forscher eine Wissenslücke stopfen. In Plos-One berichten sie, wie es der fantastische Taucher — er kann eine halbe Stunde unter Wasser verbringen, bis zu 1800 Meter unter dem Meeresspiegel — viel besser als andere Tiere schafft, in der Dunkelheit der Tiefe und unter dem polaren Eisschild den Über blick zu behalten: Der Narwal verfügt über das genaueste Sonar im Tierreich.
Die Wale orientieren sich bei ihren extremen Tauchgängen, indem sie Klicks aussenden. Diese werden von der sogenannten Melone, einem dicken, verformbaren Fettklumpen im Kopf, so gezielt kanalisiert, dass die Tiere wie mit einer Taschenlampe, die einen extrem engen Kegel ausleuchtet, Licht in die totale Dunkelheit der Tiefsee bringen. Für Menschen sind die Laute unhörbar. Erzeugt werden sie von Luftsäcken rund um die Blasöffnung — ihren Widerhall registrieren die Meeressäuger mit dem Unterkiefer und den von einer dicken Fettschicht abgeschirmten Ohren. Dies gelingt ihnen so präzise, dass sie damit in absoluter Dunkelheit kleine Beutetiere wie Heilbutt, Kabeljau oder Tintenfisch aufspüren können. Das Hochleistungssonar ist allerdings kein reines Jagdinstrument. Es dient dem überlebenswichtigen Auffinden von Luftlöchern im Packeis während der klirrend kalten Wintermonate.
»Meilenweit sieht man kein Wasser, und plötzlich ist da ein kleiner Riss, und man kann darunter Narwale erkennen«, sagte die an der Studie beteiligte Polarwissenschaftlerin Kristin Laidre der New York Times. Sie habe sich immer gefragt, wie die Tiere unter dem Eis navigieren: »Wie finden sie diese kleinen Öffnungen zum Atmen?« Nun kann sie es sich erklären. Die Forscher stellten fest, dass die Wale mit ihrem Echolot anderthalb Kilometer entfernte Löcher aufspüren und aus der Ferne berechnen, wie dick das Eis an der Stelle ist. Höchstens 30 Zentimeter, lautet die Maxime. Bei dieser Dicke schafft es der Wal noch, mit Gewalt an den rettenden Sauerstoff zu kommen: indem er die Eisplatte mit seinem massiven Schädel durchbricht.
Diese Fähigkeiten retten den Narwal vor dem Orca. Denn im Gegensatz zur potenziellen Beute schwächelt der Schwertwal beim Navigieren. Außerdem liefe er Gefahr, sich an der Unterseite des Eises seine Rückenflosse zu verletzen. Diese ist beim Narwal komplett zurück- gebildet — er ist damit perfekt angepasst ans Überleben unter der Eisplatte.
Lange rätselten Zoologen auch über die Funktion des zum Horn gewordenen Zahns. »Er trotzt fast jeder Erkenntnis über die Zähne von Säugetieren«, sagt Martin Nweeia von der Harvard School of Dental Medicine. Mittlerweile weiß man, dass die Wale damit den Salzgehalt und die Temperatur des Wassers um sie herum messen. Und wahrscheinlich auch die chemische Zusammensetzung.
Von der Reinheit des Horns versprachen sich zechende Fürsten ein langes Leben
Dünne Verästelungen durchziehen den Walzahn, sie verbinden dessen Oberfläche mit dem Nervenstrang im Inneren. Der Zahn des Menschen ist genauso aufgebaut, aber bei uns sind die Öffnungen durch dicken Zahnschmelz versiegelt. Der Narwal hingegen ist das einzige bekannte Lebewesen, bei dem Informationen von außen direkt zu den Nerven durchdringen können. Der Wal nimmt mit dem »Horn« seine Umgebung wahr wir dagegen fühlen erst etwas, wenn der Zahn potenziell gefährdet ist. Wenn etwa zu starke Kälte oder ein Schaden ihm zu schaffen macht.
Noch nie — trotz vielerlei Vermutungen wurde beobachtet, dass die Wale mit ihren Stoßzähnen um Weibchen kämpfen, dass sie damit das Eis aufbrechen oder ihre Beute aufspießen. Könnte es jedoch sein, dass der Stoßzahn neben seiner Funktion als Instrument zur Wasseranalytik ein Zeichen für männliche Potenz darstellt? Dagegen spricht, dass knapp ein Sechstel der Weibchen ebenfalls das Horn trägt. Die Tatsache wiederum, dass die Mehrheit der weiblichen Narwale den Zahn nicht ausgebildet hat, könnte bedeuten, dass seine Eigenschaften nicht überlebenswichtig sind.
Das Horn war schon vor 1000 Jahren als Kuriosität eine begehrte Handelsware. Damals brachten es die Wikinger von ihren Beutezügen mit nach Europa. Sie waren es auch, die dem Tier seinen Namen verliehen. Eine Beobachtung inspirierte sie dazu: Bereiten sich die Tiere auf einen Tauchgang vor, schweben sie für eine ganze Weile atmend an der Oberfläche, um ihr Blut und ihre Muskeln mit Sauerstoff vollzupumpen. Dieses reglose Verhalten sowie ihre dunkle Färbung mitsamt den auffälligen Flecken erinnerten die Nordmänner an Wasserleichen. Aus diesem Grund tauften sie die Tiere auf den Namen Narh-Wale — altnorwegisch für »Leiche«.
Die langen Schneidezähne dieser »Leichenwale« wurden schnell zu Objekten der Begierde. Königshäuser rissen sich um das mystische Erkennungszeichen des »Einhorns«. In Paris, Wien oder Konstantinopel zechten Fürsten mit Kaltgetränken aus »Einhornbechern« und hofften im Rausch darauf, dass die Reinheit des Wunderhorns jegliches Gift von ihnen fernhalte.
Zwischenzeitlich war der Zahn aufgrund großer Nachfrage das 20-Fache seines Gewichts in Gold wert. 1684 wurde zu einem besonderen Jahr für Hamburg: Der Walfänger Dirk Petersen erlegte ein Narwalweibchen und brachte dessen doppeltes Einhorn nach Hause — eine Sensation, bis heute. Der beeindruckende Schädel kann immer noch im Zoologischen Museum der Stadt bestaunt werden. Zu kaufen allerdings gibt es die speerartigen Zähne nicht mehr. Das Washingtoner Artenschutzabkommen schiebt der Einfuhr jeglicher Walprodukte einen Riegel vor.
Das Jagdverbot, das kommerzielle Waljagd untersagt, gilt für einige ethnische Minderheiten nicht. Ihnen wird das Recht auf Walfang zugesprochen, so auch den Inuit Nordamerikas. Sie jagen Jahr für Jahr den von der internationalen Walfangkommission zugestandenen Anteil von einigen Hundert Narwalen. Im Frühling, wenn das Eis aufbricht, versammeln sich die Tiere zu Hunderten oder Tausenden, um durch die ersten Risse im Eis in Richtung ihrer küstennahen Sommerresidenz zu schwimmen.
Geht es dem Narwal noch vor dem Eisbären an den Kragen?
An der Bruchkante aber warten die Inuit mit dem Gewehr. Einen sechs Meter langen Wal aus naher Distanz zu treffen ist nicht schwer. Die Kunst ist es, ihn im richtigen Augenblick zu erwischen: wenn er Luft geholt hat — sonst geht er unter. Und verwundet man ihn nur, so kann es vorkommen, dass er erst viel später verendet, längst außer Reichweite des Jägers.
Kontrollen, wie viele Tiere tatsächlich bei der Jagd sterben, gibt es keine. Die Schwierigkeiten, das unter dem Eis lebende Tier zu erforschen, sind ein gravierendes Problem für den Schutz der Narwale. Niemand kann sagen, wie sich die Zahl der Tiere entwickelt. Auf der Roten Liste bedrohter Tierarten sind die Narwale bislang nur als »potenziell gefährdet« klassifiziert. Die Schätzungen schwanken zwischen 20 000 und 80 000 noch lebenden Exemplaren.
Das könnte sich ändern, sollte die Arktis in den kommenden Jahrzehnten ihren Eispanzer verlieren. Der Schmelzprozess vollzieht sich in immer schnellerem Tempo. Dies eröffnet dem Orca neue Jagdgründe. Vielleicht wird sich so am Beispiel des Narwals noch früher als an der Ikone Eisbär zeigen, welch vernichtende Wirkung die Klimaerwärmung auf die Artenvielfalt der Erde hat.