München. In Deutschland sind öffentliche Plätze nach Feierabend normalerweise wie ausgestorben. Vor allem wenn sie in einem eher gediegenen Viertel wie Haidhausen liegen, einem Stadtteil von München. Aber in dieser Nacht war etwas anders. Gegen halb zehn abends, so beobachteten es die Anwohner und Kneipenbesitzer, hingen auf dem Platz vor ihrer Haustür an die 300 Menschen herum. Es war keine Demonstration, die sich am Bordeauxplatz versammelt hatte, dazu waren die Menschen zu leise. Es war keine Party, denn jeder starrte auf sein Handy. Sie schienen auf etwas zu warten, was keiner außer ihnen sehen konnte.
Aber von Beginn an.
Für Daniela Kositza begann der Wahn am Vormittag dieses Tages, mit einem Mann, der einen Goldfisch sah. Er saß in ihrem Café am Bordeauxplatz in Haidhausen und rief: »In deinem Laden ist ein Goldfisch!« Kositza blickte auf von ihrem Platz hinter der Ecke. Der Mann hielt ihr sein Handy hin. Sie sah ihr Café durch die Handykamera: »Da schwamm dann dieses Goldfisch-Pokémon.« Daniela Kositza war schon klar, dass es sich um ein Handyspiel handelte — sie fand es dennoch »total strange«: ein fremdes Handy, darauf ein Bild ihres Cafés und ein Goldfisch, den irgendwer dort hineinprogrammiert hatte. Die virtuelle Welt hatte sich über die echte gelegt.
Aber es sollte noch merkwürdiger kommen an diesem merkwürdigen Tag in der Mitte eines merkwürdigen Jahres.
Auf dem Bordeauxplatz versammelten sich im Laufe dieses Vormittages immer mehr Menschen. Kinder, Teenager, Alte, ganze Familien. Leute mit McDonald’s-Tüten und Bierflaschen, die, wie Kositza vermutete, nicht zum »gehobenen Ökobürgertum« Haidhausens gehörten. Offenbar waren sie aus der ganzen Stadt angereist, um ein Handyspiel zu spielen.
»Entweder ist was passiert, oder es gibt was kostenlos«, dachte sich Asha Tülin Calik, die eine Straßenecke weiter in ihrem vegetarischen Restaurant lunu gerade das Mittagessen vorbereitete. Anders konnte sie sich den Massenauflauf nicht erklären. Ein Handyspiel, erfuhr sie dann von Leuten, die in ihr Restaurant kamen, um ihre Handys aufzuladen. Am Bordeauxplatz gebe es »vier Lockmittel«, auf die man klicken könne, um die Monster anzulocken, die es in dem Spiel zu bekämpfen gelte, hörte die 33-Jährige. »Dadurch, dass wir einen Brunnen haben, gibt es hier offenbar auch Wasser-Pokémons«, sagt Calik. Sie wirkt noch immer etwas zögerlich, wenn sie von der digitalen Parallelwelt vor ihrer Haustür berichtet, schließlich hat sie diese nicht mit eigenen Augen gesehen. Jedenfalls wurde der Bordeauxplatz innerhalb kürzester Zeit zu einem der begehrtesten Jagdgründe einer Handy-App, die am 13. Juli in Deutschland freigeschaltet wurde und bereits am 14. Juli so viele Leute erreichte, dass am Abend die Tagesthemen berichteten und sich der Börsenwert von Nintendo in den nächsten Tagen verdoppelte. (Als bekannt wurde, dass Pokémon Go nur begrenzt Einfluss auf die Geschäftszahlen haben würde, zogen viele Anleger ihr Geld allerdings wieder ab.) Am Bordeauxplatz hatten sich an diesem Nachmittag inzwischen etwa 200 Menschen versammelt. Benedetto Blani, 46, der gegenüber von Asha Tülin Calik eine Pizzeria betreibt, war gerade zur Arbeit gekommen, als sie plötzlich losrannten. Er blickt immer noch halb ungläubig, halb begeistert, wenn er von der Treibjagd vor seinem Fenster berichtet: Kinder, Rentner, Eltern mit Kinderwagen auf der Jagd nach einem Monster, das immer nur für kurze Zeit in einer Seitenstraße des Platzes erschien. Sie vergaßen Autos und Straßenbahnen, erinnert sich Benedetto, »wie eine Prozession« sei das gewesen, nur schneller. Dann kehrten sie wieder auf den Bordeauxplatz zurück, um auf eine neue Monstererscheinung zu warten. Sie blieben bis tief in die Nacht, immer auf ihre Handys starrend.
Die Welt war für sie zu einem Spielbrett geworden. Und der Rest des Landes stand am Spielfeldrand und schaute zu — erst fasziniert, dann zunehmend genervt.
Im Juli waren es 1,26 Millionen Menschen, die sich die deutsche VerSion der App heruntergeladen hatten, im August bereits 7,1 Millionen. In Düsseldorf wurde eine Brücke für das Spiel gesperrt. In der Lüneburger Heide verirrten sich Spieler auf einen Truppenübungsplatz. In Aachen bekam ein Spieler einen Baseballschläger über den Kopf, weil er für einen Einbrecher gehalten wurde. Im Kölner Dom störten so viele Spieler die Ruhe, dass die Verwaltung den Ort zur Pokémon-freien Zone erklären ließ.
Was treibt die Leute, fragten sich die Feuilletonisten. Spieltrieb? Weltflucht? Geniale Algorithmen, die jeden sofort süchtig machen?
Am Bordeauxplatz freute sich unterdessen Cafébesitzerin Kositza, dass München nun ein bisschen mehr war wie Berlin, ihre HeimatStadt. Benedetto Blani fühlte sich an die sommerlichen Piazze in Italien erinnert. Am zweiten Abend des Pokémon-Wahns fing er an, im Internet mehr über das Spiel in Erfahrung zu bringen. Ein paar Tage später hatte er sechs neue Pizza-Kreationen auf die Karte gesetzt, jede von ihnen nach einem Pokémon-Monster benannt. Dreißig bis vierzig Pizzen mehr am Tag habe er in diesem Sommer verkauft, schätzt er.
Daniela Kositza überlegte kurz, ob sie einen Pokémon-Kaffee anbieten sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Ich bin Amazon-Gegner, ich bin Interneteinkauf-Gegner, ich liebe ein Gespräch von Auge zu Auge«, sagt die langjährige Kreuzbergerin, deren Café mit seinen alten Polstermöbeln aussieht, als sehne sie sich in die siebziger Jahre zurück. Handyspiele, selbst wenn sie die Leute ins Freie treiben, sind nicht so ihr Ding: »Jeder starrt in sein Telefon. Das ist nur im weitesten Sinne eine gemeinsame Aktion.« In ihrem vegetarischen Restaurant überlegte Asha Tülin Calik kurz, ob sie die Spieler in ihr Restaurant 10cken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Bald hatte sie sich daran gewöhnt, dass zweimal am Tag eine Horde Jäger an ihr vorbeirannte, wenn in der nahe gelegenen Breisacher Straße ein Pokémon erschien. Dass die Spieler in warmen Nächten bis drei Uhr nachts um den Brunnen herum kampierten. Dass Anwohner sich über das Dauergemurmel der Geisterjäger beschwerten.
Nur einmal wunderte sie sich noch. Es war an dem Tag nach dem Amoklauf eines Jungen im Olympia-Einkaufszentrum. »Die Stadt war halb leer, aber die Pokémoner saßen immer noch hier.« Ihre Mitarbeiterin, deren Sohn auch Pokémon Go spielte, ergänzt: »Die Welt geht unter. Mich hat’s erstaunt, dass man da noch an so was denkt.« Als das Wetter im Herbst schlechter wurde, leerte sich der Platz allmählich. Viele Spieler saßen jetzt in parkenden Autos am Rand des Grüns und warteten auf das Erscheinen der Monster. Erst als es richtig kalt wurde, blieben auch sie weg. Am Brunnen wurde das Wasser abgestellt. Die Bäume um den Platz verloren ihre Blätter.
Inzwischen sind es nur noch einzelne Gestalten, die suchend durchs Laub waten, mit gesenktem Kopf, ein Handy in der Hand. Mit dem Winter, glaubt Calik, wird der Hype endgültig vorbei sein und nicht wiederkehren, wenn es Frühling wird. »Die, die es spielen wollten, haben es auch gespielt.« Inzwischen wurde Pokémon Go weltweit mehr als 100 Millionen Mal heruntergeladen.