Paris. Es ist fast zwölf, also die beste Frühstückszeit für Ausschläfer, da sitzt Henry Kewell in den tiefen Lederpolstern des Le Pigalle und berichtet von seiner Jugend hier in der Region zwischen Moulin Roge und Oper.
Damals, in den späten Achtzigern, begegnete ihm jeden Morgen auf dem Schulweg diese alte Hure. Sie war sehr groß, sehr grell geschminkt und früher möglicherweise mal ein Mann. Doch was ihn am meisten beeindruckte: Sie trug einen BH, der die Brüste frei ließ. „Als Kind fand ich das völlig widersinnig.“
Irgendwann war die alte Hure verschwunden, es kamen jüngere Frauen, viele Südamerikanerinnen, herausgeputzte Transvestiten — und als dann vor zehn, fünfzehn Jahren auch junge Künstler und Familien die damals noch günstigen Wohnungen in dem Rotlichtviertel unterhalb von Montmartre entdeckten, wurde alles ganz anders. Schicke Bistros eröffneten neben Bordellen und Abschleppläden, Feinkostgeschäfte, Kindergärten — und vergangenen Herbst auch das Hotel Le Pigalle.
In der hellen, wuseligen Lobby rührt Henry Kewell im Kakao, während aus den Lautsprechern eine ziemlich bekiffte Reggae-Version des Siebziger-Jahre-Klassikers Mr. Big Stufttröpfelt. „Hören Sie die Ironie? Aus Mr. Big Stuff wurde Sister Big Stuft.“ Kewell, dunkles Hemd und grau meliertes Haar, ist DJ, Produzent und, wie man hört, Besitzer einer der weltweit größten Sammlungen seltener schwarzer Musik. Vor der Eröffnung des Hotels hat er sich drei Monate lang eingesperrt, um einen insgesamt 54 Stunden umfassenden Soundtrack zusammenzustellen, sein persönliches Best-of.
Der 40-jährige Musiknerd gehört zu dem Kreis aus Künstlern, Architekten, Fotografen aus dem Quartier, die die Hotelleitung schon in der Planungsphase als Ideengeber verpflichtet hat. Ihre privaten Visionen, Spleens und Vorlieben sollten das Le Pigalle tief in der Nachbarschaft verwurzeln. Denn, so die Idee, wer hier absteigt, ist kein Durchreisender. Er wird für ein paar Tage Teil von SOPi, South Pigalle, wie selbst die Franzosen das angesagte Viertel inzwischen nennen. Dessen spektakuläre Widersprüche springen einem schon vor der Eingangstür ins Auge: rechterhand ein blitzsauberes Biokaufhaus, links ein Sexshop, in dessen verstaubter Auslage ein Gleitmittel namens Juicy Jungle als letzter Schrei angeboten wird.
Drinnen donnern die Widersprüche weiter auf einen ein. Schwarz-weiß flirrender Terrazzoboden, riesige Gladiolen Bouquets, Vintage-Möbel von 1940 bis heute, Stein, Holz und Plastik. Hinter dem Marmortisch, auf dem die Zeitungen ausliegen, tut sich eine rot ausgepolsterte Nische für Striptanz auf, die einmal im Monat tatsächlich benutzt wird.
Die Gipsrippen an den Wänden zitieren die antikisierende Architektur des Viertels, das im 19. Jahrhundert den Beinamen La Nouvelle Ath&nes trug. Schon damals schätzte die Boheme die Nähe zum Laster. Viele Künstler und Schriftsteller wohnten und arbeiteten in
Pigalle, darunter Zola und ToulouseLautrec. Später war Serge Gainsbourg hier zu Hause, gaben die Rolling Stones und Prince ihre ersten Konzerte. Sex, Kunst und Rock ’n‘ Roll — darum soll es gehen.
Ein rumpeliger Fahrstuhl, in etwa so alt wie Mick Jagger, bringt einen in die Zimmer, deren Zuschnitt einen, zumindest in den unteren Kategorien, an ein Stundenhotel denken lässt. Auch die Polaroid-Pin-ups von nackten Mädchen hinter der Tür, die Fotos von Frauen in lasziven Posen überm Bett, das Briefpapier mit Lippenstiftmündern sind — leider etwas müde — Reminiszenzen an alte Rotlichtzeiten.
Die größeren (und teureren) Zimmer verfügen über einen Plattenschrank mit ausgewählten Vinylscheiben aus der Kiswell-Kollektion. In den kleineren Boudoirs liegt ein iPad, auf dem man sich je nach Stimmung und Tageszeit eine persönliche Playlist generieren lassen kann.
Tippt man um 21 Uhr »abgekämpft« und »allein« in die Eingabemaske, bietet die Maschine neben diversen psychedelisch angehauchten Nummern aus der Welt des frankophonen Souls auch Ann Sorels lange verschollen geglaubten Skandalchanson aus den siebziger Jahren: L’amour a plusieurs. Mit dunkler, brüchiger Stimme denkt eine Frau darüber nach, warum die Liebe zu mehreren am Ende keinen so richtig glücklich macht. Und da liegt man dann auf seinem Boxspringbett und fragt sich, ob das alte Pigalle, das sie hier so romantisieren, nicht vor allem eins war: ein uneingelöstes Versprechen.
Das neue Pigalle ist vor allem im hippen SoPi-Teil ein Hotspot für Leute, die keine Lust mehr haben auf die in Schönheit erstarrte Pariser Innenstadt. Für einen gewöhnlichen Mittwochabend ist die Pigalle-Lobby ziemlich voll: Bärtige Männer treffen Frauen mit sehr roten Lippen und sehr kurzen, weiten Oberteilen, das Smartphone dicht an den Weinpokalen.
In der Sitzgruppe neben der Bar lagert eine Familie mit drei adoleszenten Töchtern, zu denen sich, bisou hier, bisou da, im Laufe des Abends drei junge Männer gesellen. Man bestellt Wein und Spargel mit Senfsoße oder Filet mignon mit Brot; die Speisekarte ist bewusst frugal. Als es rund um den Couchtisch dann zu eng wird, fläzt sich ein Teil der Gesellschaft einfach auf den Boden.
Ups, denkt man zuerst und dann: Ja, klar. Es gibt fürs unkonventionelle Bürgertum derzeit keinen besseren Ort, um künftige Schwiegersöhne auszuführen: ein bisschen schick, ein bisschen oh, la, la und meilenweit entfernt von der behäbigen Pariser Gastlichkeit mit ihren weißen Tischtüchern und obligatorischen Viele-Gänge-Menüs.
Am Wochenende legt ein DJ auf. Dann wache draußen ein Türsteher, um zwielichtigen Gestalten den Zutritt zu verwehren, hat der Direktor erzählt. „Pigalle bleibt doch Pigalle.“ Das klingt schön, ist aber natürlich nicht wahr.