Bad Homburg. Eine der erfolgreichsten Täuschungskampagnen Deutschlands kommt aus einem gelben Mehrfamilienhaus in Bad Homburg. Aus einer Seitenstraße der Kleinstadt wird der Genuss von Zucker systematisch verharmlost. Hier ist der Sitz des Informationskreises Mundhygiene und Ernährungsverhalten (IME). Der Effekt der Initiative soll sein, dass bei Karies niemand mehr an Bonbons, Schokoriegel und Zucker denkt.
Damit Verbraucher diese Botschaft glauben, verbreitet die Zuckerlobby sie nicht direkt. Dafür hat sie einen Tarnverein gegründet, den IME. Niemand soll erfahren, dass die Industrie hinter der Kampagne steckt.
Der IME ist nur ein Beispiel von Tarnvereinen im Gesundheitsbereich. Hinter den neutralen Fassaden von vermeintlich unabhängigen „Gesellschaften“, „Foren“ oder „Arbeitskreisen“ stecken häufig Pharmaunternehmen, Vitaminkonzerne oder Salz- und Zuckerhersteller. Vordergründig klären die Gruppen über Krankheiten auf oder informieren über gesundes Essen. Doch eigentlich wollen sie die öffentliche Meinung manipulieren.
„Generische Aufklärungskampagne“ heißt diese Marketingstrategie. Generisch darum, weil es nicht um PR für bestimmte Produkte geht. Vielmehr wollen die Unternehmen ein positives Bild eines Grundstoffs wie Fluorid oder Jod in der Gesellschaft etablieren, auf einen Mangel hinweisen oder eine Krankheit bekannter machen. So aufgeklärt, verlangen die Patienten oder Verbraucher dann im besten Fall irgendwann nach bestimmten Lebensmitteln im Supermarkt oder Medikamenten beim Arzt. Häufig laufen die Kampagnen über Jahrzehnte, sie zielen auf langfristiges „agenda Setting“ und einen Einstellungswandel der Bevölkerung ab. Das lassen sich die Unternehmen und Verbände über die Jahre viele Millionen Euro kosten.
Die Kariesaufklärung der Zuckerlobby beginnt im Kindergarten. Dafür hat sich der IME ein Spiel für die Kleinsten ausgedacht und ein Lied geschrieben. Pädagogen können sich beides gratis im Internet herunterladen. Motto: Gesund und schön sind meine, meine, frisch geputzte Blinkezähne.
Seit fast 40 Jahren klärt der Informationskreis über Zahngesundheit auf. Dafür betreibt er ein wissenschaftliches Archiv, unterhält einen Informationsdienst und hält Kontakt zu »führenden Professoren der Zahnmedizin und Ernährungswissenschaft an deutschen Universitäten«, heißt es in der Selbstdarstellung. Das Internetportal bietet viele scheinbar neutrale Informationen an. Nur eine findet sich nicht: Wer das alles bezahlt. Zu finden ist nur der Hinweis, dass „Verbände der deutschen Lebensmittelwirtschaft“ dem IME angehören.
Es dauert Wochen, herauszufinden, wer genau den Tarnverein finanziert — trotz intensiver Recherchen in Archiven, Datenbanken und bei Geschäftspartnern und eines mehrstündigen Gesprächs mit einer Mitarbeiterin des IME. In einem Bundestagsdokument findet sich nach langer Suche ein Hinweis auf die Zuckerlobby. Die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker e. V. bestätigt schließlich, dass sie hinter dem IME steht. Der Verband wolle nicht im Vordergrund stehen, sagt die Geschäftsführerin der Kampagne, „die Inhalte sprechen für sich“. So kann man das sehen.
Die Hauptaussage der meisten Veröffentlichungen ist: Man könne alles essen, wenn man nur richtig kaue und danach die Zähne putze. Zucker und Süßigkeiten als Hauptverursacher von Karies und Zahnschäden werden heruntergespielt. Mehrere Tausend Menschen haben den Info-Dienst abonniert, auch Gesundheitsämter und Zahnärzte verbreiten die Botschaft. „Neben teilweise grenzwertigen Aussagen ist vor allem die einseitige Auswahl der Informationen schon sehr manipulativ“, sagt ein Experte.
Tarnvereine sind kein neues Phänomen. Journalisten und der kritische Verein LobbyControl haben in den vergangenen Jahren unter anderem die Atom-Lobby, Kohlekonzerne und die Deutsche Bahn überführt, unter falscher Flagge Stimmung gemacht zu haben. Sie alle wollten von der Glaubwürdigkeit vermeintlicher Bürgerinitiativen profitieren. Sie setzen sich vermeintlich“von unten“ für die Interessen der Konzerne in: pro Atomkraft oder für die Privatisierung des Staatsunternehmens Bahn etwa. Astroturfing wird das genannt, nach einem US-Hersteller für Kunsteisen — weil die falschen Gruppen ehrenamtliches Engagement nur imitieren. Selbsthilfegruppen von Patienten wurden schon häufiger von der Pharmaindustrie unterwandert.
Neu ist, dass Medizin- und auch Lebensmittelkonzerne Institutionen ins Leben rufen, die nach außen als wissenschaftlich neutral auftreten.
So engagieren sich IME oder die Informationsstelle für Kariesprophylaxe für Zahngesundheit und werden von der Zucker-, beziehungsweise der Salzindustrie finanziert. Der Arbeitskreis Jodmangel e.V. und das Forum Schilddrüse e. V. wollen über Schilddrüsenerkrankungen und die Heilkraft von Jod aufklären und werden von Salzherstellern und Pharmaunternehmen betrieben. Der Arbeitskreis Folsäure & Gesundheit und die Gesellschaft zur Information über Vitalstoffe und Ernährung e. V. sensibilisieren dafür, synthetische Vitamine zu nehmen, und werden von Big Pharma, Vitamin-Produzenten und den Salzherstellern bezahlt. Besonders aktiv sind der Pharmakonzern Sanofi und die Südwestdeutsche Salzwerke AG. Hinter den Initiativen Schmerz messen, Schmerzlos und Wege aus dem Schmerz wiederum stecken die Schmerzmittelproduzenten Mundipharma, Reckitt Benckiser und Pfizer.
Jede dieser Gruppen funktioniert ein wenig anders. Auch im Grad der Transparenz unterscheiden sie sich: Manche verschweigen die Industrie als Finanzier ganz, andere erwähnen die „Unterstützer“ klein im Impressum. So drängt sich der Eindruck auf, sie versuchten zu verschleiern, woher ihre Gelder kommen. Oft berufen die Vereine „wissenschaftliche Beiräte“ oder kooperieren mit medizinischen Fachgesellschaften, neutrale Wissenschaft-1er repräsentieren die Ziele nach außen. „Ohne das Geld der Industrie gäbe es aber keine dieser generischen Initiativen“, sagt ein Vereinskenner aus Hessen, der lange für eine Agentur gearbeitet hat.
Am Ende einer schmalen Sackgasse im Frankfurter Nordend rollt das massive Stahlgittertor auf. Dahinter ragt wie eine Festung ein Büroturm aus hellem Stein, Glas und viel Metall in den Himmel. Hier ist man richtig, wenn man die Initiativen Arbeitskreis Jodmangel, Arbeitskreis Folsäure und die Informationsstelle für Kariesprophylaxe besuchen möchte. In der fünften Etage begrüßen den Besucher bunte Quadrate im Pop-Art-Stil, auf denen die Buchstaben dk stehen — die Initialen der Agenturininhabers. Leider möchte er nicht mit Journalisten über seine Arbeit sprechen. Ex-Mitarbeiter, Firmen-Insider, Partner und Beamte bei Vereinsregistern tun das aber. So erfährt man auch von der Kampagne Schmerz messen, die Küsters mehr als ein Jahrzehnt lang und noch bis 2014 betreute.
Die Kampagne ist ein Musterbeispiel für Verschleierung. Auf ihrer Webseite heißt es, die Deutsche Schmerzliga e.V. und die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. allein hätten die Initiative ins Leben gerufen, um über Schmerzmessung aufzuklären. Mit einer Schmerzskala und einem Schmerztagebuch sollen Patienten besser in der Lage sein, über ihr Leiden mit dem Arzt zu sprechen, sagt Gerhard Müller-Schwefe. Er ist sowohl Vizepräsident der Schmerzliga als auch Präsident der Schmerzmedizin-Gesellschaft.
Pressemitteilungen nennen aber noch einen dritten Partner: den Schmerzmittel-Hersteller Mundipharma. Bei der Patientenkommunikation solle die Firma „aber praktisch unsichtbar“ sein, stattdessen sollten die medizinischen Fachvereine im Vordergrund stehen, erklärte der PR-Mann die Strategie in einer Branchenpublikation.
Wahrscheinlicher Grund: In Deutschland ist es Pharmaunternehmen verboten, für zulassungsbeschränkte Medikamente zu werben. Für hochpotente Schmerzmittel braucht man in der Regel ein Rezept. Um trotzdem auf bestimmte Wirkstoffe hinweisen und sein Produkt bewerben zu können, lässt sich das Heilmittelwerbegesetz aushebeln. Zum Beispiel über einen dazwischengeschalteten Tarnverein. Nicht die Firma ist dann Absender der Werbung, sondern eine Aufklärungsinitiative.
Unter dem Vorwand, über die Messung von Schmerz aufklären zu wollen, beeinflusste Mundipharma über Jahre mit großem Werbeaufwand die öffentliche Meinung. Bestimmte Schmerzen sollten als eigene Krankheit wahrgenommen werden, die mit bestimmten opiathaltigen Schmerzmitteln behandelbar seien. Dafür besuchte die PR-Agentur gezielt Boulevardzeitschriften, um das Thema im redaktionellen Teil bekannter zu machen, schaltete ein Infotelefon für Betroffene, organisierte Veranstaltungen zusammen mit Lokalzeitungen, zum Beispiel beim Berliner Kurier und vieles mehr.