Hamburg. Der Begriff Industrie 4.0 hat sich in der Öffentlichkeit verankert und beschreibt die 4. Industrielle Revolution. Nachdem die Dampfmaschine und der elektrische Strom über zwei Jahrhunderte hinweg die industrielle Entwicklung prägten, schlägt seit dem 20. Jahrhundert die Stunde des Internets.
Gemeint ist damit das Internet der Dinge, das eine noch nie vorher da gewesene Vernetzung zwischen Maschinen, Systemen, Arbeitern und Prozessen ermöglicht. Das Ziel ist Effizienz und Automatisierung, wenn beispielsweise Werkzeuge vollautomatisch ein Werkstück bearbeiten und die Fertigungsdaten vollautomatisch protokollieren oder an andere Maschinen senden – die Ressource Mensch wird mehr und mehr zum Beobachter und übernimmt Kontrollfunktionen. Abteilungsübergreifend entsteht eine völlig neue Arbeitsumgebung – digital, selbstständig und weitreichend vernetzt. Doch so einfach ist es nicht, tiefgreifende Veränderungen durchzuführen. Je größer das Unternehmen, desto komplexer der Vorgang der Implementierung.
Der renommierte Prozessoptimierer Dr. Günter Paller aus Rhodt wird immer dann von Unternehmen beauftragt, wenn neue intelligente Systeme wie z.B. ein Manufacturing Execution System (MES) in die Unternehmensumgebung eingeführt oder Abläufe in bestehenden Prozessen optimiert werden. Gegenüber dem Transatlantic Journal berichtet er von seinen Erfahrungen in der Prozessoptimierung und erklärt, weshalb die Digitalisierung 4.0 ohne MES-Systeme nicht zu bewerkstelligen ist.
Herr Dr. Paller, Sie haben ihr berufliches Leben der Erforschung, Optimierung und Implementierung von Prozessen gewidmet. Sie gelten heute als Spezialist für MES-Systeme, ERP-und PPS-Systeme in Deutschland und werden von Unternehmen beauftragt, diese Tools in die Unternehmensumgebung zu implementieren. An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?
Dr. Günter Paller: Zurzeit arbeite ich mit einem Projektteam an der Einführung eines MES für die Radsatzwerkstätten der Fahrzeuginstandhaltung des Bahnkonzerns. Dabei obliegt mir im Wesentlichen die fachliche Architektur des Systems.
Ein wichtiges Kernziel bei der Einführung von MES-Systemen ist die Dezentralisierung in der Organisation und umfassende Vernetzung von Fertigungsprozessen mit der Intralogistik. Können Sie dem zustimmen?
Dr. Günter Paller: Die Einführung eines neuen Software-Systems ist stets mit Unsicherheiten und Herausforderungen verbunden. Vor allem die möglichst genaue Prognose des mit der Einführung jeweils verbundenen Aufwands stellt eine Herausforderung bei der Implementierung dar. Nicht selten treten gravierende Unterschiede zwischen dem geplanten und dem bei der Einführung tatsächlich auftretenden Aufwand auf. Große Unsicherheiten gibt es hierbei im Bereich der Prozessabbildung und der notwendigen Anpassungsprogrammierung.
Aufgrund der vielen Überschneidungen bei den Aufgaben der MES-Systeme und ERP-Systeme (Enterprise Ressource Planning) ist eine Differenzierung beider Systeme schwierig. Stimmen Sie dem zu, bzw. wie würden Sie diese beiden Systeme differenzieren?
Dr. Günter Paller: In der Tat ist es schwierig, beide Systeme bzw. deren Funktionen immer auseinanderzuhalten, da sie teilweise gleiche Aufgabengebiete übernehmen, nämlich die Optimierung von Geschäftsprozessen im Unternehmen. Zudem versuchen die Anbieter solcher Systeme zunehmend Aufgaben des jeweils anderen Systems abzudecken. Jedoch agieren diese auf verschiedenen Ebenen – und das ist auch schon der Unterschied. ERP-Systeme werden auf ganzheitlicher Ebene im Unternehmen angewandt, also administrieren das gesamte Unternehmen – sprich: Sie arbeiten auf Unternehmensleitebene und nehmen Optimierungen über alle Werke und Linien hinweg vor. MES-Systeme hingegen gehören zur Fertigungsleitebene und beobachten beispielweise eine lokale Produktionslinie, steuern diese anhand definierbarer Aufgabenschwerpunkte, die Feinplanung, Datenerfassung, sowie Rückverfolgbarkeit und übernehmen steuernde Funktionen. Alle vor, während und nach dem Produktionsprozess erfassten Daten, die für andere Unternehmensbereiche wie Vertrieb, Einkauf und Controlling relevant sind, werden an das ERP-System übermittelt. Somit kann man ein MES als exekutives System bezeichnen.
Kernziel des Projektes Industrie 4.0 ist die Verzahnung der industriellen Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik. Mithilfe von intelligenten und digital vernetzten Systemen soll durch die direkte Kommunikation und Kooperation zwischen Menschen, Anlagen, Maschinen, Logistik und Produkten die Produktion möglichst eigenständig und somit vor allem dezentralisiert agieren. Somit wird eine höhere Flexibilität von Prozessen und Erweiterung von Möglichkeiten erreicht. Inwieweit spielen zur Realisierung dieser Ziele MES-Systeme eine Rolle?
Dr. Günter Paller: Eine sehr große. Ein Arbeiter an einer lokalen Produktionslinie beispielsweise kann diese gut überblicken und basierend darauf bessere Entscheidungen treffen als der Geschäftsführer des Unternehmens, der das gesamte Unternehmen erfassen muss. Denn dieser könnte kleine lokale Details übersehen oder diese unzulänglich bewerten. Durch das Delegieren der Entscheidungen in die jeweiligen Bereiche, können diese flexibler arbeiten und erreichen dadurch eine höhere Auslastung und somit eine höhere Effizienz, natürlich unter der Prämisse, dass alle für die Produktion benötigten Informationen zur Verfügung stehen. Trotz dessen ist die ständige Synchronisation mit einem zentralen System von essentieller Bedeutung. Denn nur so kann ein möglichst hoher Grad an Transparenz gewährleistet werden und kritische Situationen können rechtzeitig erkannt und auf diese adäquat reagiert werden. Dabei müssen die Informationen auch in Echtzeit erfasst werden, um diese nutzen zu können. Das MES-System mit seiner Echtzeitfähigkeit und Synchronisierung vieler dezentraler Prozesse ist ein solches System. Ein Beispiel: Nach Eingang der Kundenaufträge werden die für die Produktion erforderlichen Daten, wie zum Beispiel die Chargennummer oder das Mindesthaltbarkeitsdatum des Produktes, vom ERP- an das lokal agierende MES-System weitergeleitet. Dieses übernimmt die detaillierte Produktionsplanung und berücksichtigt dabei den aktuellen Zustand der Produktion. Vor dem Beginn der Produktion gibt es alle relevanten Daten an die für den Prozess benötigten Maschinen, Geräte, Sensoren sowie Arbeitsanweisungen an Mitarbeiter weiter. Dabei werden auch Störungen wie Maschinenstillstand, erkrankte Mitarbeiter oder fehlendes Material, die zu Abweichungen des geplanten Verlaufs führen können, erfasst. Ein MES-System plant dementsprechend nicht nur einen Produktionsprozess, sondern überwacht auch diesen, erkennt Störungen und unterstützt bei Maßnahmen zur Problemlösung. Nach Abschluss des Auftrages werden dann Daten wie die tatsächlich produzierte Menge, der Materialverbrauch sowie Ausschussmengen an das ERP-System übermittelt. Somit fungiert das MES-System in allen drei Funktionsbereichen (Produktion, Qualität und Personal) und bildet ein selbstständiges und in sich geschlossenes System.
Durch die individuellen Wünsche der Kunden wird eine immer höhere Flexibilität in der Produktion und gleichzeitig steigende Effizienz gefordert. Viele, gerade mittelständische Betriebe, haben die Befürchtung, dass die Systeme infolge der Industrie 4.0 zu komplex würden und zu hohe Investitionen beanspruchen könnten. Da die deutsche Wirtschaft jedoch hauptsächlich von mittelständischen Unternehmen getragen wird und diese nur in die Kapitalrentabilität deutlich verbesserter Produkte investieren, stellt sich die Frage, ob MES-Systeme für den Mittelstand überhaupt geeignet sind und welche technischen Basis-Szenarien, welche ja meist bei mittelständischen Unternehmen nicht gegeben sind, diese für die Integration voraussetzen.
Dr. Günter Paller: Die Befürchtung ist nicht ganz unbegründet: der Komplexität und der dazu notwendigen Investition sind nach oben keine Grenzen gesetzt. Mit einer gründlichen, überdachten Umsetzungsstrategie von Industrie 4.0 bleibt das Ganze handelbar. Basierend auf einem funktionierenden und effizienten MES lassen sich sehr schnell nachhaltige Erfolge erzielen, die zwangsläufig eine vorzeigbare Kapitalrendite mit sich bringen.